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05. 12. 2024

Kateřina Lepic: Das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft

Serigraphie: Jana Hunterová

Das fremde Wesen muss dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild; in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüsste, dass es drin steckt: Bei diesen Verwandlungen möchte ich besonders gern an ein Sichtrüben der eigenen Augen glauben. (Franz Kafka, Tagebuch, 30. September 1911)

 

In diesem Sommer habe ich für die Adalbert Stifter Verein einen Fotowettbewerb zum Thema „Franz Kafka: Die Verwandlung“ organisiert, und natürlich bin ich die ganze Zeit für dieses Motiv besonders sensibilisiert gewesen. Es ist mir nicht entgangen, dass auch die Organisatoren der SOMMERAKADEMIE 2024 des Partnerprojekts Kultur- und Weiterbildungsgesellschaft und Stiftung Haus Schminke in Löbau und des Vereins Simpliblue in Liberec/Reichenberg vom kreativen Potenzial des Franz Kafkas Werk gefesselt waren.

Serigraphie: Anna Honzejková

Denn Die Verwandlung lädt unaufhaltsam zu einem Perspektivenwechsel ein. Eine spannende Reise in andere Welten und in die Welten der Anderen kann beginnen! Ein großartiges Reisemittel ist das eigene Gestalten.

Die Bleistiftspitze gleitet lautlos über das leere Papier, das Atelier riecht nach Farbe und schreit nach dem Pinsel, der Zeigefinger am Kameraverschluss wartet auf den synaptischen Befehl zum Drücken.

Und das junge Lebewesen ist im Begriff, einen Teil davon zu nutzen, um sich in das Zimmer zu versetzen, in dem Gregor Samsa gerade erwacht. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen wird es wahrscheinlich zunächst den Helden und den Raum, in dem die Geschichte spielt, erkunden, aber schnell werden andere Akteure ins Spiel kommen, in denen man oft Menschen aus der eigenen Welt erkennen kann.  Jemand wird das Bild einer Dame im Pelz vor Augen haben, jemand wird den Gedanken an einen Apfel nicht abschütteln können, der sich unter den Büschen eines Käfers entzündet hat.

Serigraphie: Tetyana Barasyuk, Patrik Fejkl

Jeder Beteiligte findet seinen eigenen Auslöser. Der eine wird dann furchtlos für eine Weile zum Käfer, ein anderer verabscheut die Idee von vornherein. Manche Menschen fürchten sich besonders vor der Vaterfigur. Andere teilen mit Gregor das Gefühl der Einsamkeit und der Unmöglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren. Das ist kein ungewöhnliches Gefühl für einen Teenager. Ebenso wenig wie das Gefühl, die Erwartungen der Erwachsenen, insbesondere der Eltern, nicht erfüllen zu können. Im Gegensatz zu den Erwachsenen befinden sich die Jugendlichen an einem anderen, manchmal schmerzhaften Punkt ihrer eigenen Existenz und Identitätssuche. Selbst eine drastische Körperveränderung kann viel intensiver empfunden werden als bei Erwachsenen.

Was kann ein Erwachsener Besseres tun, als sich mit einem jungen Menschen auf diese Reise zu begeben und das Ganze gemeinsam mit ihm zu erkunden.

Serigraphie: Andy Fiedlerová und Kryštof Sadílek

Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 20 Jahren konnten fünf Tage lang an einem Fotografie- und Siebdruck-Workshop mit den Dozentinnen Petra Gadasová und Jana Hunterová sowie an einem Animationsworkshop mit den Dozenten Pavel Sadílek und Kryštof Sadílek teilnehmen. Zwei Dolmetscher begleiteten den Workshop zum besseren Verständnis. Am Ende konnten die jungen Künstlerinnen und Künstler ihre Werke ausstellen und sie ihren Liebsten und der Öffentlichkeit präsentieren.

Die Sommerakademie zielt nicht nur darauf ab, die künstlerischen Fähigkeiten der jungen Menschen zu entwickeln, sondern auch ihr kritisches Denken und ihr kulturelles Verständnis zu fördern. Nach zwei erfolgreichen Ausgaben hat das Projekt den Ehrgeiz, eine jährliche Tradition zu werden, die zur Entwicklung von Kreativität und kulturellem Austausch zwischen jungen Menschen aus Tschechien und Deutschland beiträgt. (Jana Hunterová)

Serigraphie: Alex Velebil, Amálie Močubová

Im Rahmen des Projekts Kunstmittelschule in Liberec SUŠÁK AWARDS 2024 wurde die Sommerakademie mit dem Preis für das Ereignis des Jahres ausgezeichnet.

Zehn Jahre und achtzehn Tage, nachdem Franz Kafka seinen Gedanken über einem Vexierbild festhielt, schrieb er in sein Tagebuch:

Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft. (Franz Kafka, Tagebuch, 18. Oktober 1921)

Ich möchte allen Pädagoginnen und Pädagogen, Künstlerinnen und Künstlera und anderen Erwachsenen meine Anerkennung aussprechen, die Kinder und Jugendliche auf dem Weg zu ihrem eigenen Schaffen begleiten und sie dazu ermutigen, auf die Stimme der Zauberei zu hören.  

Serigrafie: Petra Gadasová

Mein Dank richtet sich an Jana Hunterová, Fotografin, Autorin von Langzeitdokumentarprojekten mit sozialen Themen, Filmemacherin, Lehrerin und Kuratorin, deren Engagement mich begeistert und inspiriert hat.

Kateřina Lepič ist Fotografin und Übersetzerin, sie arbeitete am Projekt Kafka 2024 mit, unter an derem an der Organisation des fotografischen Wettbewerbs Die Verwandlung / Proměna.