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16. 05. 2024

Seth Rogoff: Kafkas Mauern und Türme

Ausschnit aus dem Umschlag des neuen Romans von Seth Rogoff The Castle (FC2 2024).

Der zeitliche Rahmen

In dem Werk, das in der Kafka-Forschung als Oktavheft C bekannt ist (eines von acht blauen Oktavheften), befindet sich ein kurzes Prosafragment mit dem Titel „Beim Bau der Chinesischen Mauer“, üblicherweise ins Englische übersetzt mit The Great Wall of China (dt. „Die Große Mauer Chinas“; Anm. d. Ü.). Im Allgemeinen schätze ich die Schwierigkeiten im Übersetzungsprozess, die Übersetzer oder Übersetzerin dazu zwingen, die bestmögliche Lösung zu suchen, mag sie auch nicht perfekt sein. Allen Übersetzungen haftet grundsätzlich etwas Unperfektes an – so auch Kafkas „Übersetzung“ eines vorgeblich chinesischen Texts ins Deutsche. Der Ausdruck „Chinesische Mauer“ (genau wie Great Wall of China; „Große Mauer Chinas“) beispielsweise ist ein europäischer Terminus und wäre mit Sicherheit nicht von Kafkas chinesischem Erzähler verwendet worden, um das System der Grenzbefestigung im Kaiserreich zu beschreiben.

Die englische Übersetzung mit The Great Wall of China verändert die Bedeutung des Ausdrucks. Wo der englische Titel das Objekt, die Mauer, in den Mittelpunkt stellt, liegt die Betonung des deutschen nicht auf der Mauer selbst, sondern auf dem Prozess ihres Entstehens.

Auf den ersten Blick erscheint es nur folgerichtig, anzunehmen, Kafkas „Bau“ beziehe sich auf das Hochziehen der Mauer, auf das tatsächliche Herausbilden einer architektonischen Struktur. Das stimmt, zumindest teilweise, doch den Fokus auf die Konstruktion der physischen Mauer zu legen, würde bedeuten, den wesentlichen Kern des Textfragments zu ignorieren. Am wichtigsten ist das erste Wort des deutschen Titels, „beim“ – eine Kontraktion, eine Zusammenziehung aus Präposition und bestimmtem Artikel („bei dem“). Eine genauere Übersetzung ins Englische könnte lauten: During the construction ... oder When building ... oder Amid the construction ... (Etwa: Während des Baus; Als die Mauer gebaut wurde; Unter dem Bau; Anm. d. Ü.). In dieser Geschichte geht es also nicht im eigentlichen Sinn um die Mauer oder deren materielle Konstruktion, sondern vielmehr um die Zeit – das Intervall –, während derer die Mauer gebaut wird. Kafkas Mauer ist kein physisches Objekt; Kafkas Mauer ist ein zeitlicher Rahmen.

Das Zeitintervall des Baus

Für diejenigen unter den Lesenden, die nicht mit dem Textfragment vertraut sind, möchte ich eine kurze Zusammenfassung liefern. Der Erzähler ist ein ehemaliger rangniederer Vorarbeiter eines Arbeitstrupps, der mit dem Bau der Mauer beauftragt ist. Bereits in jungen Jahren wurde er in der Kunst des Maurerhandwerks geschult und war nun verantwortlich für ein kleines Team aus Tagelöhnern. Dieses kleine Team war Teil eines größeren mit etwa fünfhundert Arbeitern, dessen Aufgabe darin bestand, in einem Zeitraum von ungefähr fünf Jahren einen fünfhundert Meter langen Abschnitt der Mauer zu errichten. All dies liegt für den Erzähler in der Vergangenheit, und so präsentiert sich der Text als eine Art historisches Essay, als eine Sammlung von Reflexionen über den zurückliegenden Bauprozess.

Der Erzähler beginnt seinen Bericht mit einer grundlegenden Beobachtung, die sich bald zu einer Frage entwickelt. Er stellt fest, dass die Mauer nicht kontinuierlich weitergebaut, sondern Stück für Stück in getrennten Teilbereichen errichtet wurde. Zwei solcher Fünfhundert-Meter-Abschnitte wurden beispielsweise zu einem einen Kilometer langen Mauerabschnitt zusammengefügt, nur um diesen Gesamtabschnitt dann zurückzulassen und die Arbeitstrupps an einen anderen Ort zu verlegen. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise war, dass die Mauer keinen singulären Bau darstellte, sondern vielmehr ein Durcheinander aus Einzelsegmenten. Mit anderen Worten, diese Mauer war äußerst lückenhaft.

Der offizielle Grund für den Mauerbau als solches lag im Schutz des Reiches vor den „Nordvölkern“, nomadischen Völkern, die Vorherrschaft und Sicherheit des chinesischen Kaiserreichs bedrohten. „Wie kann aber eine Mauer schützen“, fragt sich der Erzähler, „die nicht zusammenhängend gebaut ist?“

Die Antwort ist, sie kann es nicht. Und es wird noch schlimmer. „Ja, eine solche Mauer kann nicht nur nicht schützen, der Bau selbst ist in fortwährender Gefahr.“ Die Mauer stört das Leben an der Grenze empfindlich; sie beunruhigt die nomadischen Völker. Sie gewöhnen sich an den Bau der Mauer, sie siedeln um, sie organisieren sich neu. Im Zuge dieser Prozesse gewinnen diese Völker ein weitaus besseres Verständnis von der Mauer als deren Erbauer oder selbst die „Führerschaft“, die sie in der Hauptstadt geplant hat. Durch das Festlegen (oder Erschaffen) einer Grenze verursacht oder intensiviert die Mauer genau dasjenige Problem, das sie ursprünglich lösen sollte.

Laut Erzähler entschied sich die Führerschaft um der Vorarbeiter willen für die Methode des Teilbaues. Demzufolge war es psychologisch wichtig, dass den Männern in seiner Position ein Mindestmaß an Inspiriertheit erhalten blieb, damit sie mit ihrer Arbeit fortfahren konnten. Im Prinzip sollte dieses Vorgehen also eine Art Hoffnungslosigkeit bekämpfen, die zwangsläufig mit der unmöglichen Aufgabe einhergehen muss, den Bau einer Mauer von derart unvorstellbarer Länge zu vervollständigen.

Nach fünfhundert Metern kehren die Vorarbeiter also in ihre Heimatdörfer zurück. Dort, weit weg von der Grenze, bekommen sie ein Gefühl dafür, was die Mauer eigentlich ist – was die Mauer eigentlich bedeutet.

Erst hier, denkbar weit entfernt vom Bauwerk im Norden, zu Hause in seinem Dorf im südöstlichen Zipfel des Reiches, spürt der Erzähler die Wichtigkeit der Mauer. Er vermag sie in ihrer realen, materiellen Beschaffenheit nicht zu greifen (sie ist unbegreiflich). Dementsprechend kann der Erzähler die Mauer auch nicht verstehen, das zeigt seine grundlegende Verwirrung ganz deutlich. Was er aber zu spüren vermag, das ist die essenzielle Bedeutung der Mauer. So beschreibt er eine Szene, in der die rangniederen Vorarbeiter ihre Heimatdörfer verlassen, um die Arbeit an einem neuen Teil der Mauer aufzunehmen.

Sie reisten früher von zu Hause fort, als es nötig gewesen wäre, das halbe Dorf begleitete sie lange Strecken weit. Auf allen Wegen Gruppen, Wimpel, Fahnen, niemals hatten sie gesehen, wie groß und reich und schön und liebenswert ihr Land war. Jeder Landmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.

In dieser Szene ist die Mauer als Objekt verschwunden. Sie ist nicht mehr länger nur Steine und Mörtel. Sie ist Einheit, Bruderschaft und Geschichte. Je abstrakter die Mauer wird, je stärker sie von ihrer tatsächlichen steinernen Beschaffenheit dort an der Grenze im Norden losgelöst wird, desto mächtiger wird sie. Nicht nur ist die Mauer in ihrer physischen Form nicht mächtig, sie bedroht sogar die Sicherheit des Reiches. Sie ist haarsträubend fehlerhaft. Die Macht der Mauer liegt in der Idee hinter der Mauer.

Der Bau der Mauer verbindet das gesamte Kaiserreich, jedoch nicht im praktischen Sinne, sondern in der politischen Gedankenwelt des Volkes. Während des Bauprozesses wird China erst zu China. Die Menschen werden zu Chinesen und Chinesinnen. Die Mauer ist das Reich, ist die vereinte chinesische Gesellschaft, die geteilte chinesische Kultur und das gemeinsame chinesische Blut, oder zumindest die Vorstellung einer vereinten Gesellschaft, einer geteilten Kultur und gemeinsamen Blutes. Im Verlauf der Errichtung werden die Nomadenvölker zu Außenseitern; sie werden als wilde Barbaren dargestellt, mit ihren „Gesichtern der Verdammnis“, den „aufgerissenen Mäulern“ und ihren mit „hoch zugespitzten Zähnen besteckten Kiefern“. Die Kinder, Kafkas deutlichste Fenster in die Seele einer Gesellschaft, schrecken weinend vor diesen Bildern zurück, obwohl sie niemals Bekanntschaft mit solchen Gestalten machen.

Die Mauer erschafft das Reich, vielmehr, als dass das Reich die Mauer erschafft. Die Mauer erschafft die Figur des Kaisers, vielmehr, als dass sie von ihm per Dekret erschaffen wird. Die Menschen lernen ihn kennen, wenn auch indirekt – und der einzige Weg für den einzelnen Dorfbewohner, mit ihm zu „kommunizieren“, führt über das Medium Mauer. Ansonsten ist dieser Kaiser unerreichbar, verschwindet in der Nicht-Realität, in der Geschichte, im Mythos. Die Mauer bleibt in der Vorstellung der Dorfbewohner präsent, während der Kaiser (und auch das Kaiserreich selbst) sich in der Vergangenheit verliert.

Der Zeitraum der Errichtung („beim Bau“) wird nicht vom tatsächlichen Errichten einer Mauer definiert – es gibt keine Mauer. Der Zeitraum der Errichtung beinhaltet die Erschaffung politischer Identität. Der Zeitraum der Errichtung bildet den Prozess ab, der politische Subjektivität hervorbringt. Der Zeitraum der Errichtung bringt die komplexen Beziehungen zwischen Individuen, Gemeinschaften und verschiedenen Machtstrukturen hervor.

 Ein neues Rätsel

Es gibt einen bei näherer Betrachtung wichtigen Moment in Kafkas Prosa-Fragment. Laut Erzähler führte die Verkündung des bevorstehenden Mauerbaus zu einer Stimmungsänderung im gesamten Kaiserreich. In den frühen Jahren der Errichtung habe die geistige Erhöhung der Mauer zu „viel Verwirrung der Köpfe“ geführt. Der Erzähler schreibt:

Das menschliche Wesen, leichtfertig in seinem Grund, von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine Fesselung; fesselt es sich selbst, wird es bald wahnsinnig an den Fesseln zu rütteln anfangen und Mauer, Kette und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerreißen.

Der Erzähler führt ein konkretes Beispiel für dieses Phänomen an: ein Buch, von einem Gelehrten veröffentlicht, in dem der Bau der Mauer mit der Geschichte des Turmbaus zu Babel verglichen wird. Was den Turm zerstörte, so der Gelehrte, sei nicht in erster Linie Gottes Zorn gewesen. Das wirkliche Problem habe darin bestanden, dass der Turm auf einem technisch mangelhaften Fundament errichtet worden sei. Dank der erheblich verbesserten Bautechniken und handwerklichen Fähigkeiten habe die Chinesische Mauer den biblischen Turm in Sachen Stabilität bei Weitem übertroffen, so der Gelehrte weiter. Dies war wichtig, denn laut diesem Buch war die Mauer nicht bloß eine Mauer. Sie wurde als Fundament für einen „neuen Babelturm“ gebaut. Dem Buch des Gelehrten lagen entsprechende Pläne bei, wenn auch recht undurchsichtige, die den Entwurf dieses Turms zeigten.

Der Bericht des Gelehrten lässt den Erzähler ratlos zurück. Wie kann eine Mauer, fragt er sich, als Fundament für einen Turm dienen? Wie soll ein Turm auf einer Mauer ruhen, die bei Vollendung, sollte sie jemals erfolgen, einen Viertel-, oder höchstens einen Halbkreis, mit Sicherheit aber nicht annähernd einen Vollkreis beschrieben würde? In wortwörtlicher Hinsicht, schließt der Erzähler, könne so ein Teilkreis also unmöglich als Fundament für einen Turm zum Himmel dienen. Die einzige Möglichkeit, die unlogische Darstellung des Gelehrten nachzuvollziehen, bestehe darin, „den Turm“ in geistiger Hinsicht zu verstehen – als Metapher. Doch die Lesart des Gelehrtenturms als Metapher gibt dem Erzähler nur ein weiteres Rätsel auf. Wenn der Turm lediglich ein Symbol ist, eine Metapher, warum sollte man dann eine echte Mauer bauen? Warum wurden dann Tausende Arbeiter an die Grenze des Reichs geschickt, um dort für Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte Stein auf Stein zu schichten? Warum musste ein ganzes Land mobilisiert werden, um den spirituellen Sinn eines symbolischen Turms mit einer durch und durch realen Mauer zu unterfüttern?

Der Turm erhebt sich

In der Bibelgeschichte wandern die Nachfahren von Noahs Sohn Shem nach Babylon aus. Dort tun sie sich zusammen und errichten gemeinschaftlich einen Turm, der bis hinauf in den Himmel reichen soll. Ein Portal zwischen profaner Welt und göttlichem Reich. Die Kinder Shems sind zu dieser Großtat imstande, weil sie miteinander kommunizieren können, sie sprechen alle dieselbe Sprache. Der Turm zu Babel ist das Sinnbild gesellschaftlicher Harmonie; er ist das Produkt der kollektiven Sehnsucht nach Vereinigung mit Gott.

Doch die Macht hinter dieser kollektiven Sehnsucht, hinter dieser Harmonie, stellt eine Bedrohung für Gott dar. Mit einem solchen Turm rückt das Weitentfernte – der Himmel – sehr dicht heran. Was getrennt war, wird vereinigt. Was unvorstellbar war, wird erfassbar. Was abstrakt war, wird konkret.

Gott zerstört den Turm. Er bestraft die Kinder Shems, indem er ihre Sprache verwirrt. Jegliche Kommunikation bricht ab. Die soziale Harmonie ist dahin.

Der Turm stürzt ein

Die Idee des Gelehrten von der Chinesischen Mauer als Fundament für einen neuen Turm zu Babel ist eine Illusion. Eine Mauer ist dazu da, innen von außen zu trennen, sich selbst von anderen, die Zivilisierten von den Barbaren. Ein solches Bauwerk kann niemals die Basis eines Turmes sein, wie der Turm von Babel einer ist – das ultimative Symbol gesellschaftlicher Harmonie und kollektiver Sehnsucht. Die Horizontalität der Mauer steht im Widerspruch zur Senkrechte des Turmes. Die politische Botschaft der Mauer konterkariert die Transzendenz des Turmes. Die Angst der Mauer konterkariert die Hoffnung des Turms. Die Mauer ist autoritär, hierarchisch; der Turm ist demokratisch und egalitär.

In einem wichtigen Punkt behält der Gelehrte allerdings recht: Der Turm zu Babel, demokratisch und egalitär, errichtet auf dem Fundament gemeinsamer Sprache und Sehnsucht, ist verhängnisvoll wackelig. Seine Basis bröckelt. Der Turm stürzt in sich zusammen.

Die Botschaft und der Traum

Der Erzähler liefert uns, den Lesenden, eine Parabel. Auf dem Sterbebett flüstert der Kaiser einem Boten eine Nachricht zu. Diese Nachricht ist für uns gedacht. Die Entfernung zwischen dem Boten, dort beim Kaiser, im Herzen des Palastes, und uns in unseren Dörfern, draußen in der Provinz, ist unüberwindbar groß. Unzählige Hindernisse versperren den Weg. Der Bote wird es niemals schaffen, die Nachricht niemals ankommen. „Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten an einen Nichtigen. Du aber“, so schließt der Erzähler in seiner Parabel, „sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“

Der Traum ist die Mauer.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Nina Lieke.

Seth Rogoff ist Autor und Dozent für Media Studies, Cultural Analysis und Literatur. Er schrieb den Roman The Castle (FC2 2024), eine intertextuelle Untersuchung von Franz Kafkas Das Schloss, und unter anderem First, the Raven: A Preface (2017), Thin Rising Vapors (2018) und The Kirschbaum Lectures (2023). Gemeinsam mit dem ehemaligen NBA-Spieler Kendrick Perkins schrieb er das Memoir The Education of Kendrick Perkins (St. Martin’s Press 2023), das die Schnittmenge von Sport, Herkunft, Geschichte und Medien untersucht. Rogoffs Buch The Politics of the Dreamscape (Palgrave 2021) beschäftigt sich mit Kulturgeschichte, Literaturtheorie und Politik rund um Träume und Traumdeutung. Die kürzeren Arbeiten des Autors erschienen in zahlreichen Zeitschriften, unter anderem in The Forward, BODY, Cagibi, Epiphany, Eclectica und Rain Taxi. Seinen Doktorgrad erlangte Rogoff an der Amsterdam School for Cultural Analysis der University of Amsterdam (ASCA). Er besitzt einen Masterabschluss in European Intellectual History von der Duke University, North Carolina, und einen Bachelorabschluss im interdisziplinären Programm Literature and History von der Washington University in St. Louis. Zur Zeit unterrichtet Rogoff Media Studies an der Anglo-American University in Prag, Tschechien.