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25. 04. 2024

Bernhard Setzwein: Rasantes Roadmovie mit Kafka als Beifahrer

Detail des Buchumschlages von Bernhard Setzweins Roman „Kafkas Reise durch die Bucklige Welt“. © edition lichtung, Viechtach

Der in Bayern an der tschechischen Grenze lebende Autor Bernhard Setzwein hat dieser Tage den Roman „Kafkas Reise durch die Bucklige Welt“ (edition lichtung) veröffentlicht. Das Buch wartet mit der Behauptung auf, Kafka sei im Juni 1924 gar nicht gestorben, sondern vielmehr dem Tod von der Schippe gesprungen, um nach dem Krieg in Meran unerkannt das Leben eines Kartenabreißers im Kino Apollo zu führen. Im Folgenden erzählt der Autor, woher er die Chuzpe für die Anfangsidee nahm, nämlich eine Naturgesetzlichkeit wie den Tod einfach zu negieren, und welche Recherchen er für sein Buch, das sich zu einem unterhaltsamen Roadmovie entwickelte, unternahm. 

Die Tatsache, dass Franz Kafka am 3. Juni 1924 auf die elendiglichste Art und Weise gestorben sein soll, hielt ich seit jeher für einen nicht hinnehmbaren Skandal. Umso mehr, nachdem ich das Schlusskapitel von Reiner Stachs dreibändiger Biografie gelesen hatte, worin das Sterben Kafkas aufs Genaueste beschrieben wird. Eine ungemein anrührende, geradezu quälende Lektüre war das, die gleichzeitig klar machte: Mit Stachs grandiosem Coup war ein weiterer, ähnlich gearteter biographischer Schreibversuch in jeder Hinsicht obsolet. Wenn, dann würde man es anders anpacken müssen, zum Beispiel indem man Robert Musils Forderung, „wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben“, zu seinem Recht verhülfe. Es ist ja eh so, dass kaum ein anderes Medium den Möglichkeitssinn lebendiger ausgestalten kann als die Literatur. Sie hat die nötigen magischen Kniffe dafür. Ihr wirkmächtigster lautet: Schreibe einen Satz hin und augenblicklich wird das darin Erzählte wahr werden. Berühmtestes Beispiel: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

Folglich dachte ich mir: Mach´es doch genauso. Und schrieb den ersten Satz hin: „Nun hatte es sich der Doktor, immerhin war er schon achtundsiebzig Jahre alt, doch noch so einzurichten gewusst, dass er sagen konnte: Das Leben ist unproblematisch.“ Damit war Kafka über jene Klippe hinweggeholfen, an der sein Leben vor 100 Jahren zerschellt war. Und auf einmal ließ sich weitererzählen: Franz Kafka gelingt es, die Kriegsjahre zu überstehen. In den 1950er Jahren findet er Unterschlupf in jener Stadt, in der er schon einmal drei Monate zur Kur gewesen war, im idyllischen Meran. Er wird Billeteur im Apollo Kino, schließlich war die Filmwelt einmal seine große Passion gewesen.

Fassade des Meraner Apollo Kinos in der Matteottistraße, der direkten Verlängerung der Tobias-Brenner-Straße, in der noch heute die „Villa Ottoburg“ steht, in der Kafka drei Monate lang Kurgast war. © Palais Mamming Museum 

Eines Abends, es ist eine laue Sommernacht, wirft ihm das Schicksal buchstäblich einen jungen Mann vor die Füße. Es ist Marek Hłasko, Spitzname „der polnische James Dean“, ein aufstrebender Schriftsteller, Mitte zwanzig, den die Kommunisten kurze Zeit vorher als „Verräter am Sozialismus“ aus seinem Heimatland hinausgeworfen haben. Zuerst kehren Marek und Franz in einer Espresso-Bar ein, dann organisieren sie sich einen fahrbaren Untersatz – genauer einen Fiat Ollearo – und starten damit eine verwegene, surreale, nicht selten durch Traumgefilde führende Abenteuerreise. 

Erste Station: Graz. Denn in der „Ottoburg“, so will es die Erzählung, saß einst am Abendessentisch, an dem sich Kafka damals mit einem deutschen Oberst und dessen antisemitischen Ansichten herumschlagen musste, ein Ehepaar aus Graz. Sie Jüdin, er Eisenwarenhändler. Sie luden Kafka ein, sie doch einmal zu besuchen. Es dauerte bis weit nach Kriegsende, ehe Kafka dieser Einladung nachkam. Er und Marek machen sich auf, die Facklers, so heißt das Ehepaar, in Graz zu finden. Sie müssen dabei bis tief ins Innere des Grazer Schlossberges vordringen, dorthin nämlich hat sich der alte Fackler samt seinem ganzen Eisenwarengeschäft zurückgezogen. Man darf nicht vergessen, wir befinden uns in einer Zeit, in der sich Österreich immer noch als „erstes Opfer“ von Hitler-Deutschland geriert und gleichzeitig der Freispruch des SS-Mannes Franz Murer, des „Schlächters von Vilnius“, vor einem Grazer Gericht von Teilen der Bevölkerung bejubelt wird. Grund genug also für die Facklers, sich in einem nachgerade kafkaesken „Bau“ zu verkriechen, der sich exakt unterhalb des zum Wahrzeichen von Graz erhobenen Uhrturms befindet.

All das musste ich selber erst genauer recherchieren. Deshalb meine Reise mit Franz Kafka im Gepäck zu den Originalschauplätzen meines größtenteils schon fertiggestellten Romans. (Das habe ich schon oft so gemacht: Ich schreibe entlang meiner Imagination sehr realen Örtlichkeiten nach und fahre dann anschließend hin, um zu überprüfen, ob sich die Wirklichkeit auch nach meinen Möglichkeiten richtet. Andernfalls müsste ich sie bitten, sich zu korrigieren. Tut sie das nicht, bin freilich ich gezwungen, den Text doch noch einmal zu schleifen und zu polieren.) In diesem Fall stiegen wir in den Schlossberg ein, dessen Stollen zu Teilen von Zwangsarbeitern ausgehöhlt wurden, zum Schutz der Zivilbevölkerung bei Bombenangriffen. Denjenigen, die diese Arbeit erledigen mussten, war jedoch der Zutritt verwehrt. Sie mussten draußen in ihren Gefangenenlagern bleiben und sich selbst kümmern, wie sie das Bombardement überstehen würden. 

Das Innere des Grazer Schlossberges durchziehen Stollen und Kavernen, die sowohl von Wehrmachtsangehörigen als auch Zwangsarbeitern angelegt wurden. © Fotos: Bernhard Setzwein

Eine weitere Station der Reise ist der kleine Weiler Kaag nahe der Ortschaft Edelsbach, wir sind nun schon fast in der Landschaft der Buckligen Welt angekommen. Hier baute der Kleinbauer Franz Gsellmann über 20 Jahre lang an seiner „Weltmaschine“.

Bernhard Setzwein vor der „Weltmaschine“ im steiermärkischen Kaag. © Foto: Sabine Böhlau

Über 20 Jahre lang montierte der Kleinbauer Franz Gsellmann an seiner Maschine, in der auch jede Menge Motoren und Lichter verbaut sind, die sich hier im Glas eines Bilderahmens spiegeln. Immer wieder kam es vor, dass Gsellmann die Umgebung in eine Finsternis stürzte, wenn das Einschalten seiner Weltmaschine einen „Kurzen“ fabrizierte und die Sicherungen flogen. © Foto: Bernhard Setzwein

Was für ein so ganz anders „gestrickter“ Vater war dieser Gsellmann im Vergleich zu Hermann Kafka! Sohn Franz litt sein Leben lang unter der pragmatischen Art des Patriarchen, unter dessen gefühlsarm kalkulierendem Geschäftssinn. Franz Gsellmann dagegen kannte nur eines, nämlich die fixe Idee, unbedingt diese Weltmaschine bauen zu müssen. Alles andere, Ehefrau und Kinder, der Hof, das Fortkommen der Familie, interessierten ihn nicht. Er horchte viel lieber, wie er das nannte, ins Land hinein, fuhr mit seiner Schubkarre die Nachbardörfer ab und sammelte überall den Schrott und das Gerümpel zusammen, aus dem er sein Kunstwerk schuf, das so überhaupt keinen Sinn zu haben schien. Fragten ihn die Leut’, wozu er das alles tue, sagte er: Für irgendetwas wird sie schon gut sein. Seine Kinder litten wohl nicht wenig unter dem künstlerischen Starrsinn ihres schrulligen Vaters. Was hätte Kafka mit einem solchen Menschen zu erzählen und zu besprechen gehabt? Ich habe in meiner Erzählung versucht, diese Frage zu beantworten. Schreiben bedeutet, zumindest für mich, der ich nie einen festen Plan habe, Dinge laufen zu lassen und Konstellationen eben auszuprobieren, ohne vorher zu wissen, wohin mich das Schreiben treiben wird.

Und so schicke ich Kafka dann auch noch in ein beinahe vollkommen leerstehendes Schloss. Es ist Schloss Krumbach in der Buckligen Welt, nahe der gleichnamigen Ortschaft. Dort trifft Kafka auf die von ihm selbst erschaffenen Figuren seines Romans „Das Schloss“ – und die haben ihm so manche unangenehme Frage zu stellen.

Detail des Buchumschlages von Bernhard Setzweins Roman „Kafkas Reise durch die Bucklige Welt“, auf dem Schloss Krumbach zu sehen ist. © edition lichtung, Viechtach

Da ist es ihm gerade recht, dass er und Marek bald wieder aufbrechen und auf ihrem Roadtrip weiterfahren, der sie schließlich noch nach Wien führt (doch auch dort wird die Reise nicht zu Ende sein). Denn auch das musste ich den Möglichkeitssinn durchspielen lassen, auf meiner ganz persönlichen Reise mit Franz Kafka: Wie es nämlich sein würde, wenn er dort in Wien, und zwar im Jahr 1960, ausgerechnet H. C. Artmann über den Weg laufen würde. Sie würden in den Strohkoffer gehen, jene Kellerbar, in der sich in jenen Jahren die Avantgarde der jungen österreichischen Republik traf. Ob er sich wohl gefühlt hätte, unter all den Surrealisten, Existenzialisten und Traktatverfassern? Wobei die Proklamation des Poetischen Actes von H. C. Artmann vielleicht die Äußerung gewesen sein dürfte, die Kafka am meisten zu denken gegeben hätte: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch nur irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“ Und das ihm, diesem Kafka, der immer nur die eine Angst kannte: Nicht dass er irgendein Atmen, ein Lieben, ein Fühlen verpassen könnte, sondern dass ihm das Leben sein Schreiben raubt und damit alles, was er ist und überhaupt sein kann.

Eine wertvolle Quelle für die Wien-Kapitel von „Kafkas Reise durch die Bucklige Welt“ war Maria Fialiks Veröffentlichung im Zsolnay Verlag, hier mit einem Foto des jungen H. C. Artmann. So ungefähr könnte er Kafka entgegengetreten sein. © Foto: Bernhard Setzwein