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Abb.: Schlagzeile „Franz Kafka gestorben“ Seite 1 / Seite 3 Prager Tagblatt, 4. 6. 1924.
© Anno/Österreichische Nationalbibliothek
Death is not the end lautet ein Lied von Bob Dylan, das ich lange Zeit nur in der Coverversion von Nick Cave and the Bad Seeds kannte. Cave und Kafka waren Teil meiner postsozialistischen Prag-Erfahrung Ende der 1990er und frühen 2000er – When you’re standing on the crossroads / That you cannot comprehend… Während Cave als lebender Musiker die Melancholie und den Weltschmerz jener Zeit im Prager Veletržní palác (Messepalast) mal lustvoll, mal gelangweilt verkörperte, war Kafka als toter Schriftsteller längst zum Emblem des Dunklen und Mystischen der Tourismusindustrie erstarrt. Sein Gesicht war von den T-Shirt-Auslagen und Postkartenständern der Souvenirshops ebenso wenig wegzudenken wie die zahlreichen Golem-Figuren in den Straßenbuden am Alten Jüdischen Friedhof. Kafkas popkulturelle Karriere oder besser die seiner Autor-Legende in Prag nach 1989 war ein weiteres Kapitel der Geschichte seines Weltruhms. Doch wie hat dieses spektakuläre Nachleben eigentlich begonnen?
Kafkas Tod am 3. Juni 1924 blieb keineswegs unbemerkt. Im Gegenteil bereits einen Tag nach seinem Tod in Kierling bei Wien titelte das Prager Tagblatt auf der ersten Seite die Schlagzeile Franz Kafka gestorben. Heute wirkt sie unscheinbar im Titelkopf der Tageszeitung. Damals jedoch wurde sie ebenso wie der Auszug aus Max Brods früherem Kafka-Essay auf Seite 3 der auch außerhalb der Tschechoslowakei gelesenen Tageszeitung aufmerksam registriert. Mehrere Tages- und Wochenzeitungen in Zentraleuropa brachten in der Abendausgabe des 4. Juni beziehungsweise in den darauffolgenden Tagen die Nachricht vom Tod des relativ jung verstorbenen Dichters – angefangen vom kommunistischen Rudé právo (Rotes Recht) über die liberale Wiener Neue Freie Presse, den Pester Lloyd bis zur Frankfurter Zeitung. Kafka avancierte in diesen Nachrichten wahlweise zum verkannten Dichter oder zum bekannten Autor aus dem „Prager Dichterkreise“. Die langfristig erfolgreichste Stilisierung als verkannter Dichter wurde von kolportieren Fehlinformationen wie z. B. in der Vossischen Zeitung unterstützt. Ihr zufolge habe Kafka die letzten Jahre einsam in einem Erzgebirgsdorf verbracht. Früh, einsam, arm. Das waren die erfolgreichen Bausteine einer Legendenbildung, wie Joseph Roth wenige Monate später in Bezug auf Kafka resümierte. When you’re sad and when you’re lonely / And you haven’t got a friend…
Manche Zeitungen verzichteten auf die bloße Todesnachricht und brachten sofort einen Nachruf, etwa die tschechischsprachigen Národní listy (Nationale Blätter), die einen glänzend geschriebenen Nekrolog von Kafkas früherer Freundin, der Übersetzerin Milena Jesenská abdruckten, in dem sie Kafkas Werk Weltbedeutung zusprach. Jesenskás Nekrolog sollte Jahrzehnte später sein eigenes Nachleben entfalten. Insbesondere jüdische Zeitungen und Zeitschriften ehrten Kafka mit Nachrufen. Der Redakteur der Selbstwehr, Felix Weltsch, widmete dem verstorbenen Freund noch in der ersten Trauerwoche ein ganzseitiges Gedenkblatt mit einem eigenen Nachruf, Brods bekanntem Essay sowie Kurzerzählungen Kafkas. Das Gedenkblatt wurde rasch von weiteren zionistisch orientierten Medien in Zentraleuropa rezipiert, von der Jüdischen Rundschau in Berlin bis zur Jüdischen Pressezentrale in Zürich oder der Új Kelet (Neuer Osten) im siebenbürgischen Cluj (Kolozsvár, Klausenburg).Abb.: Anzeige aus dem Berliner Tageblatt, Morgenausgabe, 18. 11. 1924, 16.
© ZEFYS, Staatsbibliothek zu Berlin
Neben den Nachrufen, flüchtigen Denkmälern aus Papier, wurde der zu Lebzeiten nur literarisch Interessierten bekannte Kafka auch mit mehreren Gedenkveranstaltungen geehrt. Während seine Prager Freunde eine Trauerfeier in der Kleinen Bühne ausrichteten, organisierte der aus Norddeutschland stammende, in Berlin lebende Rezitator Ludwig Hardt Ende Juni einen Gedenkabend im Wiener Palais Eschenbach, dem Sitz des Niederösterreichischen Gewerbevereins, sowie zwei weitere im Herbst im Berliner Meistersaal und in der Secession. Hardt knüpfte so an die Orte seiner Lesungen an, auf denen er 1921/22 erstmals aus Kafkas Werken öffentlich vorlas und ihn in den Kanon der deutschsprachigen wie der internationalen Literatur stellte. An den drei Gedenkabenden rezitierte Hardt eine Auswahl aus Kafkas Kurzprosa, die er mit Georg Heyms Der Tag liegt schon auf seinem Totenbette und Heinrich Heines Childe Herold umrahmte. Heines Klagelied beschreibt den letzten Weg eines Dichters auf einer Barke, dessen Augen „immer noch zum Himmelslicht“ gerichtet sind. Zeitgenössische Reaktionen verstanden dies als Prophezeiung literarischer Unsterblichkeit. Just remember that death is not the end…
Kritisierte der Satiriker Anton Kuh in seinem Nachruf auf Kafka noch die Ignoranz der Wiener Medien, lösten Hardts Trauerabende eine kleine Welle von neuen Zeitungsberichten in der Hauptstadtpresse Österreichs und der Weimarer Republik aus. Hardts Kritiker, darunter Joseph Roth, Soma Morgenstern und Siegmund Kaznelson, waren sich einig, dass Kafkas Werk mit Hardts Stimme einen würdigen Vermittler gefunden habe. Dass Hardts Sprechkunst von der literarischen Öffentlichkeit in Zentraleuropa hochgeschätzt wurde, zeigen auch die damaligen Rezensionen etwa von Thomas Mann, Béla Balázs oder Felix Salten. Hardt, der 1938 ins New Yorker Exil fliehen musste, hielt die Erinnerung an Kafka aufrecht. Kurz vor Hardts überraschendem Tod 1947 bedauerte ein Journalist nach dem Besuch eines von diesem organisierten Heine-Kafka-Abends, dass Hardts Kunst eine verklingende sei, die unbedingt auf Schallplatten festgehalten werden sollte.
Abb.: Franz Kafka. Nach einer Zeichnung von Clara Epstein (Wien), Menorah, 2/11 (1924), 10.
© Compact Memory, Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg, Frankfurt am Main, 2011, https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2914794
Ebenso wie Hardts Gedenkabende für seinen verstorbenen Freund geriet auch das Kafka-Porträt von Clara Epstein weitgehend in Vergessenheit. 1924 von der Zeitschrift Menorah veröffentlicht, folgte es auf einen Nachrufessay des in Königsberg geborenen und in München lebenden jungen Schriftstellers Manfred Sturmann und wurde neben ausgewählten Texten aus Kafkas Kurzprosa abgedruckt. Vermutlich war es lediglich einer von mehreren Illustrationsaufträgen, die Epstein für die Menorah in den 1920er Jahren erfüllte. Epstein, gebürtige Brünnerin, die in Wien Malerei studierte und zeitweise in Berlin lebte, musste ebenso wie Hardt 1938 Österreich verlassen. Ihre Spuren verlieren sich im niederländischen und amerikanischen Exil.
Epsteins Porträt ist eine von drei bekannten Darstellungen, die im Kontext der Nachrufe auf Kafka 1924 und Anfang 1925 erschienen sind. Sie prägen bis heute einen Teil der visuellen Erinnerung an Kafka. Epsteins Zeichnung beruht dabei ebenso wie die beiden anderen auf einer Fotografie Kafkas von circa 1920. Das Sujet präsentiert einen trotz seines erwachsenen Alters jugendlich, beinahe knabenhaft wirkenden Kafka. Sein Gesicht ist leicht zur Seite geneigt, die Augen sind aber auf die Betrachterin, den Betrachter gerichtet; sein Mund deutet ein kaum wahrnehmbares Lächeln an. Jugendlichkeit und ein mildes, beinahe metaphysisches Lächeln sind auch die typischen Merkmale in den schriftlichen Beschreibungen von Kafkas Physiognomie durch seine Freunde. Die Gesichtszüge stehen somit im bewussten Kontrast zu Kafkas physischen Leiden. Sie scheinen Trost zu spenden. When the storm clouds gather round you / And heavy rains descend …
Sicher war Kafkas postumer Weltruhm, der zwei Jahrzehnte nach seinem Tod einsetzte, nicht vorhersehbar. Dennoch kam er nicht über Nacht. Die drei kurzen Einblicke in das frühe Nachleben zeigen, dass Kafka zu Lebzeiten einen großen Kreis von Freund:innen und Verehrer:innen hatte, der sein Vermächtnis bewahren wollte. Neben Brod, der umgehend nach Kafkas Tod alles an die Veröffentlichung von dessen Nachlass setzte, sind es viele weitere, teils in Vergessenheit geratene Künstler:innen und Autor:innen wie Ludwig Hardt und Clara Epstein, die das Totengedenken an Franz Kafka 1924/25 in ganz Zentraleuropa mitgestalteten.
Auch der „ruhmscheue“ Kafka, wie ihn Thomas Mann einmal nannte, dachte zu Lebzeiten selbst hin und wieder über (Nach-)Ruhm nach. In seinen Texten lassen sich mögliche Vorstellungen davon entdecken, beispielsweise in der tragikomischen Kurzerzählung Ein Traum: Als Josef K. auf einem Friedhof einen Künstler beobachtet, wie er goldene Lettern auf einen Grabstein schreibt, versinkt er in einem Erdloch. Dennoch gelingt es ihm, von unten den frisch gezeichneten Namen zu erkennen und realisiert im selben Moment, dass es sein eigener ist: Entzückt von diesem Anblick erwachte er.
Auf dem Cave-Konzert im Veletržní palác vor über 20 Jahren wusste ich weder Bescheid über das unmittelbare Nachleben von Kafka und seinem Werk noch über die Geschichte des Ortes und seiner Umgebung während der Shoah.
* Mein Dank gilt Michael L. Miller, der mich an das von Nick Cave gesungene Lied erinnerte.
Zur Autorin: Ines Koeltzsch arbeitet als Historikerin am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien sowie als Lehrbeauftragte am Jewish Studies Program der Central European University Vienna. Sie beschäftigt sich mit der Kultur- und Sozialgeschichte der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Zentraleuropa und insbesondere in Prag und den böhmischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert. 2024 erscheint ihr Buch Vor dem Weltruhm. Nachrufe auf Franz Kafka und die Entstehung literarischer Unsterblichkeit im Böhlau-Verlag Wien/Köln.