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17. 07. 2024

Judita Matyášová: Einfach mal im Zug neben Franz sitzen!

Lago Maggiore - Foto Jan Jindra

Seit 2003 reisen der Fotograf Jan Jindra und ich durch ganz Europa und dokumentieren Orte, die Franz Kafka privat oder dienstlich besuchte. Ein Ergebnis unseres gemeinsamen Projekts Die Wege von Franz Kafka ist eine Wanderausstellung sowie die Publikation S Kafkou na cestách (Mit Kafka unterwegs). Darin stellen wir den berühmten Schriftsteller als neugierigen Reisenden vor, der sich für gesunden Lebensstil und moderne Technologien interessierte.

Quer durch Europa

Oft werde ich gefragt, wann ich zum ersten Mal von Franz Kafka gehört habe. Es war in der Schule, aber nicht von den Lehrern, sondern von meiner Mitschülerin Tereza Hof. Sie erzählte mir, was den Schriftsteller bewegte: Er habe sich in seiner Familie unverstanden gefühlt und die Arbeit als Angestellter habe ihn gelangweilt. Das Thema fand ich damals nicht besonders spannend.

Das änderte sich aber 2003, als ich zum ersten Mal den Fotografen Jan Jindra traf und er mir erzählte, dass er Orte dokumentiere, die Kafka besuchte. Und so entstand vor meinem geistigen Auge nach und nach ein ganz anderer Franz Kafka, der gar nicht der gängigen Vorstellung entsprach.

Aus dem Buch S Kafkou na cestách / Mit Franz Kafka unterwegs

In den darauffolgenden 21 Jahren waren Jindra und ich gemeinsam auf den Spuren dieses außergewöhnlichen Schriftstellers unterwegs. Immer wieder kehren wir an einzelne Orte zurück, um festzustellen, was sich in der Zwischenzeit verändert hat. Dutzende Orte in ganz Europa, über die Kafka ein paar Worte, ein paar Sätze oder manchmal auch ganze Seiten in seinen Reisetagebüchern oder Briefen schrieb. Warum fuhr er nach Meran, nach Weimar, nach Friedland i .B. oder Luzern? Uns interessierte, wie die Städte damals aussahen. Und wie sie heute aussehen.

Urlaub im Süden

Ein Teil unseres Projekts Die Wege von Franz Kafka ist eine Fotosammlung, die wir bereits in verschiedenen Ausstellungen in Europa und Übersee vorstellen konnten. Im Frühjahr dieses Jahres wurde eine solche Fotoausstellung im Italienischen Kulturinstitut in Prag gezeigt. Diesmal mit Bildern von Orten, die Kafka in Italien besucht hatte. Einer dieser Orte ist Riva del Garda, wo Kafka zusammen mit Max Brod und dessen Bruder Otto im Urlaub war.

Die Atmosphäre dieser Hafenstadt muss ihn stark beeindruckt haben, denn hierher spielt auch eine seiner Erzählungen: Der Jäger Gracchus. Allen unseren Reisen gingen intensive Recherchen voraus. Ich suchte nach alten Aufnahmen und anderem Archivmaterial und nebenher auch nach Finanzierungsmöglichkeiten für diese Reisen. Keine leichte Aufgabe, denn das Thema war für Sponsoren nicht gerade attraktiv. Aber manchmal hatten wir auch Glück – und einmal gerade in Italien!

Überraschung im Hotel

Judita Matyášová (rechts) mit dem Besitzer des Hotels Gabrielli Sandwirth in Venedig - Foto Jan Jindra

Im Herbst 2007 wollten wir nach Venedig fahren, das Kafka 1913 besuchte. Damals wohnte er nur ein paar Schritte vom Markusplatz entfernt. Doch die Übernachtung im Luxushotel Gabrielli Sandwirth überstieg unsere finanziellen Möglichkeiten. Das Hotel wird seit Jahrzehnten von der Familie Perkhofer geführt und ich dachte mir, es könnte sie vielleicht interessieren, was wir in Venedig vorhatten. Also schrieb ich ihnen einen Brief, in dem ich von unserem Projekt erzählte.

Nach einem Monat hoffte ich nicht mehr auf eine Antwort. Doch dann klingelte auf einmal das Telefon. Nach einem "Bongiorno!" folgte die Einladung ins Hotel. Der damalige Inhaber – der etwas ältere Dottore Perkhofer – wusste auf alle unsere Fragen eine Antwort. Wie konnte Kafka direkt ins Gesicht des Gondoliere blicken, wenn die Wasseroberfläche mehrere Meter vom Hotel entfernt ist? So weit hatte er doch nicht sehen können! Das Ufer war aber damals nur halb so breit, erfuhren wir, und das Rätsel war gelöst. Hotel Gabrielli Sandwirth, Venedig - Foto Judita Matyášová

Im Erdgeschoss des Hotels wartete dann die nächste Überraschung: die historische Einrichtung vom Beginn des letzten Jahrhunderts. Die Schreibtische im Salon, die Anrichte im Speisesaal oder das Telefonhäuschen aus Holz, eingebaut in einen speziellen Schrank. Vor einigen Jahren wurde das Hotel von einem internationalen Unternehmen gekauft, das es nun renoviert. Nächstes Jahr sollen die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sein. An der Fassade befindet sich nur ein Schild mit einem Text über Kafka. Aber ob von der Inneneinrichtung etwas bleibt? Da müssen wir uns  wohl überraschen lassen.

Venedig - Foto Jan Jindra

Direkt daneben

Der nächste Ort unserer Italienreise war die Stadt Stresa, die Franz Kafka und Max Brod 1911 vor allem wegen der atemberaubenden Szenerie am Lago Maggiore beeindruckt hatte. Wie schon so oft bei ihren Reisen, handelten sie auch dieses Mal nach der Maxime, die Brod in seiner Autobiografie Streitbares Leben beschrieben hatte. Sie waren überzeugt, dass man eine Landschaft völlig erfassen kann, wenn man dort ins Wasser eintaucht.

Max Brod notierte in seinem Reisetagebuch, sie seien jeden Tag neben einer Villa baden gewesen. Doch wie erkennt man die richtige, wenn es  hier am Ufer Dutzende solcher Villen gibt? Unser einziger Anhaltspunkt war eine Zeichnung aus Brods Tagebuch. Wir fuhren kreuz und quer um den See, bis wir die richtige fanden – fast direkt neben unserem Hotel.Aus dem Buch S Kafkou na cestách / Mit Franz Kafka unterwegs

Buchstaben und Farben

2009 erschien im Verlag Academia unser gemeinsames Buch Mit Franz Kafka unterwegs, als Teil der Reihe Auf Spuren berühmter Schriftsteller mit einheitlicher grafischer Gestaltung. Letztes Jahr dachten wir, es sei an der Zeit, die Ergebnisse unseres Projekts zu aktualisieren, und zwar inklusive eines neuen Grafikdesigns. Dazu luden wir Studierende der Tomáš-Baťa-Universität in Zlín ein. "Keine Angst vor Kafka" lautete der Auftrag. Am besten gefiel uns der Entwurf von Sára Hlásenská, die Jan Jindras Fotos und meine Texte mit kräftigem Blau und Orange kombiniert und in die Überschriften Buchstaben aus Kafkas Manuskript eingebaut hatte. Vernissage des Buchs S kafkou na cestách / Mit Franz Kafka unterwegs - Foto Ondřej Lacina

Unser aktuelles Buch Mit Kafka auf Reisen versammelt Informationen über fast 70 Orte in ganz Europa. Neu sind zum Beispiel die Texte über Kafkas Reise nach Stapelburg im heutigen Sachsen-Anhalt oder seinen Besuch in Mailand. Das Buch, das im Verlag Labyrinth erschien, feierte Anfang Mai Premiere – die sogenannte Buchtaufe. Und wer könnte eine passendere Taufpatin sein als meine ehemalige Klassenkameradin Tereza Hof, die mir vor vielen Jahren zum ersten Mal von Franz Kafka erzählte!

Klischees aufbrechen

Im Mai erschien über unser Projekt eine ganze Reihe Artikel in tschechischen Medien. Bei Interviews wurde ich oft gefragt, was man denn noch Neues über Kafka erfahren kann? Wohin überall er gereist sei? Weshalb er sich für einen gesunden Lebensstil interessierte? Und was ihn an modernen Technologien interessierte?

Ein regelrechter Fragenhagel, aber auch sehr viel Verwunderung. Denn vor allem in Tschechien scheint es sehr schwierig zu sein, das gängige Kafka-Klischee von dem ausschließlich an Literatur interessierten Schriftsteller aufzubrechen. Daher freut es mich, dass wir Kafka mit unserem Projekt auch als neugierigen Reisenden zeigen können. Aber noch mehr freut mich, dass sich auch Lehrerinnen und Lehrer an mich wenden, die in ihrem Unterricht ein viel plastischeres Bild des Schriftstellers vermitteln wollen.

Aus dem Buch S Kafkou na cestách / Mit Franz Kafka unterwegs

Keine Zufälle

Vor einigen Tagen habe ich über Kafka einen Vortrag in Weimar gehalten, das er 1912 zusammen mit Max Brod besuchte. Die thüringische Stadt ist vor allem durch drei große Klassiker bekannt, die hier gelebt hatten: Goethe – Schiller – Nietzsche. Als Franz Kafka und Max Brod 1912 nach Weimar aufbrachen, wollten sie die Orte sehen, wo Goethe gelebt und gewirkt hatte. Judita Matyášová in Weimar vor dem Hotel, in dem F. Kafka wohnte - Foto Serge Strekotin

Doch das Interesse des achtundzwanzigjährigen Franz konzentrierte sich bald auf jemand anderen. Viel mehr als der große Literat interessierte ihn die sechzehnjährige Margarethe (Grete) Kirchner, die Tochter des Verwalters von Goethes Haus. Sie hatten nur ein paar Stunden miteinander verbracht, aber danach hoffte Franz darauf, sie irgendwo "zufällig" zu treffen. Vielleicht geht sie gerade durch den Park oder biegt gleich auf die Hauptstraße ein, oder vielleicht würde er ihr am Brunnen begegnen? In seinem Reisetagebuch notierte er, er habe die schwarzhaarige junge Frau fast überall gesehen, ihren Namen habe er selbst im Hotel gehört, wo der Papagei immerfort "Grete!" rief.

Die Geschichte von Kafkas großer Sommerliebe erzählte ich der Bibliothekarin Claudia Streim, als sie mir die wunderbare Wendeltreppe in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zeigte. Über diese Treppe gibt es die Legende von einem verliebten Zimmermann, der den Namen seiner Liebsten, die auch Margarethe hieß, in den unteren Teil geritzt haben sollte. Und als ich den Namen dann las, wurde mir klar, dass es bei Kafka keine Zufälle gab. Seine "Grete" war einfach überall!

Weimar - Foto Judita Matyášová.

Immer unterwegs

Immer wieder muss ich die Frage beantworten, was es denn an dem weltberühmten Schriftsteller noch zu entdecken gebe? Dann empfehle ich die Lektüre von Kafkas Reisetagebüchern, die voller prägnanter Beschreibungen sind. Wenn man sie liest, ist es, als säße man mit Kafka im Zug und würde heimlich auf die junge Dame gegenüber schielen oder die Münzen abzählen, die man dem Kellner als Trinkgeld da lassen möchte, dessen Lebensgeschichte man sich eben im Kopf zusammenreimt.

Franz hat einen stets fest im Griff, damit der Blick bei der Betrachtung der Umgebung nicht abschweift. Manchmal zwingt er einen, Hässliches oder Lächerliches zu betrachten, manchmal lässt sein Griff etwas nach und man freut sich über eine neue Entdeckung. Auf jeden Fall lohnt es, sich von der Sehnsucht des ewigen Reisenden mitreißen, sich durch seine Notizen inspirieren zu lassen. Am 31. Juli 1917 schrieb Kafka in sein Reisetagebuch:

In einem Eisenbahnzug sitzen, es vergessen, leben wie zu Hause, plötzlich sich erinnern, die fortreißende Kraft des Zuges fühlen, Reisender werden, die Mütze aus dem Koffer ziehn, den Mitreisenden freier, herrlicher, dringender begegnen, dem Ziel ohne Verdienst entgegengetragen werden, kindlich dies fühlen, ein Liebling der Frauen werden, unter der fortwährenden Anziehungskraft des Fensters stehn, immer zumindest eine ausgestreckte Hand am Fensterbrett liegenlassen. Schärfer zugeschnittene Situation: Vergessen, daß man vergessen hat, mit einem Schlage ein im Blitzzug allein reisendes Kind werden, um das sich der vor Eile zitternde Waggon, anstaunenswert im Allergeringsten, aufbaut wie aus der Hand eines Taschenspielers.

 Aus dem Tschechischen übersetzt von Martina Lisa.

 Judita Matyášová (1979) studierte an der Josef-Škvorecký-Literaturakademie und Zeitgeschichte an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Karls-Universität. Seit 2003 veröffentlicht sie in den nationalen Medien, vor allem in Lidové noviny, auf der Website von Reporter, in der Wochenzeitung Vlasta und der Monatszeitschrift Glanc. Sie schreibt über Geschichte, Kultur und Reisen und ist Mitautorin des Projekts Franz Kafka Journeys, das seit 2003 die Orte dokumentiert, an denen der berühmte Schriftsteller unterwegs war. Zusammen mit dem Fotografen Jan Jindra veröffentlichte sie 2009 das Buch On the Road with Franz Kafka (Academia Verlag). Seit 2010 reist sie regelmäßig nach Dänemark, wo sie die Geschichte von 80 tschechisch-jüdischen Kindern aufdeckte, die von dänischen Pflegeeltern gerettet wurden. Im Jahr 2024 veröffentlichte sie zusammen mit Jan Jindra das Buch Mit Kafka unterwegs (Verlag Labyrint). Judita Matyášová hält regelmäßig Vorträge über ihre journalistische Arbeit und organisiert Wanderausstellungen über Kafka und seine Reisen in Europa.

Mehr über Judita: www.juditamatyasova.cz und www.juditamatyasova.com