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Wilhelm Wessel, Illustration zu Kafkas Die Verwandlung, 1924, Galerie Ztichlá klika
Franz Kafka vermittelte in zahlreichen Texten dank seiner Sprachkunst plastische Bilder. Dabei erhebt sich die Frage, aus welcher visuellen Erfahrung seine originelle Bildhaftigkeit geboren wurde. Was waren es für Bilder, die ihn in seinem Alltag umgaben, welche Elemente der bildenden Kunst und der Populärkultur faszinierten ihn besonders?
Ende Oktober 1923, sieben Monate vor seinem Tod, lebte Franz Kafka zusammen mit seiner Freundin Dora Diamant eine Zeit lang in Berlin-Steglitz. Deutschland hatte nach dem verlorenen Weltkrieg noch immer mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Die Inflation fraß Kafkas Rente auf, sodass es nicht einmal mehr für die Grundnahrungsmittel reichte. Lebensmittel erhielten Franz und Dora von den Verwandten aus Böhmen. Kafka, bei dem vier Monate später Kehlkopftuberkulose diagnostiziert wurde, konnte sowieso kaum noch schlucken und verlor dramatisch an Gewicht. An seine Schwester Ottla schrieb er damals einen Geburtstagsgruß, in dem er ein verlockendes Bild heraufbeschwor, das aus ausgewählten Leckerbissen zusammengesetzt war; diese machte er wohl gerade deshalb zum Objekt seiner visuellen Wahrnehmung, weil sie seinem Geschmackssinn entzogen waren:
Liebe Ottla, sehr schade daß ich diesmal am 28ten nicht in Prag bin, ich hatte große Pläne, nicht kleinliche Seidenpapierpackungen u. dgl. wie sonst, sondern etwas ganz großes, offenbar schon unter dem Einfluß des Berliner Geschmack, so etwa wie die jetzige große Revue heißt: ‚Europa spricht davon‘. Es hätte eine Nachbildung des Schelesner Bades werden sollen, das Dich so gefreut hat. Ich hätte einfach mein Zimmer ausgeräumt, ein großes Reservoir dort aufstellen und mit saurer Milch füllen lassen, das wäre das Bassin gewesen, über die Milch hingestreut hätte ich Gurkenschnitten. Nach der Zahl Deiner Jahre (die ich mir hätte sagen lassen müssen, ich kann sie mir nicht merken, für mich wirst Du nicht älter) hätte ich ringsherum die Kabinen aufgestellt, aufgebaut aus Chokoladeplatten […]. Oben an der Zimmerdecke, schief in der Ecke, hätte ich eine riesige Strahlensonne aufgehängt, zusammengesetzt aus Olmützer Quargeln. Es wäre bezaubernd gewesen, man wäre gar nicht imstande gewesen, den Anblick lange auszuhalten. (Franz Kafka an seine Schwester Ottla im Oktober 1923)
Für heutige Leser, denen die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts vertraut ist, wirkt Kafkas Beschreibung wie die Darstellung der Rauminstallation eines Konzeptkünstlers. Kafkas von visuellen Impulsen beeinflusste Vorstellungskraft zeigt sich in vielen seiner Texte auf originelle Weise. So schilderte er in der Erzählung Die Sorge des Hausvaters das Aussehen des rätselhaften Wesens Odradek, das bildende Künstler bis heute fasziniert:
Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissenen, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfizte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. […] Odradek [ist] außerordentlich beweglich und nicht zu fangen.
Kenner von Kafkas Werk interpretieren Odradek als Symbol, zum Beispiel als Ausdruck für das komplizierte Verhältnis des Schriftstellers zum Judentum. Künstler, Ausstellungskuratoren sowie Organisatoren von Künstlerresidenzen und Workshops inspiriert Odradek allerdings gerade, weil er sich einer eindeutigen Interpretation entzieht. Mit Vorliebe verbalisierte Kafka in seinen Texten Bilder, die sich gegen einfache Deutungen sperrten. Er zweifelte an der Fähigkeit der Sprache, einen klar auslegbaren Sinn zu vermitteln, und hegte eine ähnliche Skepsis auch gegenüber den Möglichkeiten der bildlichen Darstellung. Am Ende stand eine freie und offene Bildhaftigkeit, die ihrer Zeit voraus war. Zugleich stand sie jedoch mit Kafkas eigener visuellen Erfahrung in Zusammenhang. Der Frage nach dem „wie“ geht die Ausstellung Mit Kafkas Augen: Zwischen Bild und Sprache nach, die vom 4. Juni bis zum 28. Oktober 2024 in der Westböhmischen Galerie in Pilsen zu sehen ist.
Emil Filla, Kopf eines alten Mannes, 1914, Westböhmische Galerie in Pilsen
Kafka sammelte seine ersten visuellen Eindrücke zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Prag. Wenn wir aus unserer von Bildern überschwemmten Gegenwart 120 Jahre zurück in die Vergangenheit blicken, scheint es, dass die Sphäre der Visualität damals übersichtlicher war. In der Kunstszene wechselten die Kunstrichtungen einander diszipliniert ab: auf Jugendstil und Symbolismus folgte der Expressionismus, auf diesen wiederum der (in Prag außerordentlich einflussreiche) Kubismus, der Futurismus usw.
Unser diesbezüglicher Eindruck ist allerdings falsch. Die Kunstszene bestand aus verschiedensten stilistischen und formalen Ausdrucksformen, die nebeneinander koexistierten, sich auf verträgliche Weise ergänzten oder polemisch miteinander stritten. Die traditionelle, in der Vergangenheit befangene Kunst konnte sich damals visuell oftmals leichter durchsetzen als auf die Zukunft gerichtete Experimente, die heutzutage von Kunst- und Kulturgeschichte besonders geschätzt werden. Der Betrachter Franz Kafka interessierte sich zudem nicht nur für Werke der hohen Kunst – Malerei, Bildhauerei, Zeichnung und Grafik –, sondern auch für die Populärkultur, wie sie in illustrierten Zeitschriften, Plakaten, Film, Fotografie, Tanz und Kabarett anzutreffen war.
Kafkas Briefe, Tagebücher und Texte bezeugen, dass er sich von den verschiedenartigen Bildern überfluten ließ, sie verschlang, detailliert beobachtete und beschrieb, ohne sie aber jemals in ihrer Bedeutung zu interpretieren. Zugleich verspürte er ein gewisses Misstrauen gegenüber visuellen Eindrücken. Am nächsten standen ihm die deutschsprachigen, oftmals jüdischen Künstler der Generation der Gruppe Osma [Acht]. Beinahe wäre Kafka selbst Mitglied dieser deutsch-tschechisch-jüdischen Gruppierung moderner Maler geworden.
Um 1907, als die Gruppe Osma entstand, zeichnete Kafka sehr viel und sein Freund Max Brod drängte ihn, sich den bildenden Künstlern anzuschließen. Diese Zusammenarbeit kam letztlich nicht zustande und Kafka zeichnete im Lauf der Zeit wohl immer weniger.
Richard Teschner, Plakat zur Vorlesung von Paul Leppin, 1900, Uměleckoprůmyslové museum (Prag)
Kafka schätzte das Werk der Maler Friedrich Feigl, Willi Nowak und Max Horb, wahrte jedoch im Unterschied zu Max Brod eine gewisse kritische Distanz zu den Künstlern. In seinem Tagebuch erwähnte er beispielsweise die Befangenheit, die er beim Besuch des Ateliers von Willi Nowak verspürte, als er mit überraschtem ungeübten Blick Bilder betrachtete, zu denen er sich nicht zu äußern vermochte. Ihn faszinierte die Selbstsicherheit des Malers, die er aber offenkundig nicht glaubhaft fand. Über die von Friedrich Feigl entwickelten Kunsttheorien schrieb er 1912 in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer, man könne sie „wie das Licht einer Kerze“ ausblasen.
Max Brod, der von Willi Nowaks Werk vorbehaltlos begeistert war, ließ sich von dem Künstler sein Porträts in Malerei und in Lithografie anfertigen. Kafka dagegen ließ sich niemals von einem Maler porträtieren. Es existieren mehrere Porträtfotografien, aber auch gegenüber diesem Medium hegte er ambivalente Gefühle. Über ein fotografisches Porträt von Felice schrieb er, „das Verlangen trägt den Blick über das beunruhigende Bildchen weg.“ Über die Sehnsucht, die die Bilder – etwa auch die Bilder eines Films – in ihm weckten, ohne sie befriedigen zu können, schrieb Kafka wiederholt.
Die Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Bilder, die Sehnsucht des Betrachters nach dem tatsächlichen Sehen zu befriedigen, dürfte wohl auch die kritische Einstellung Kafkas zu den Illustrationen seiner Texte beeinflusst haben. Bei der Vorbereitung der ersten Buchausgabe seiner Erzählung Die Verwandlung, in der Gregor Samsa eines Morgens als Ungeziefer aufwacht, schrieb Kafka an seinen Verleger: „Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.“ Seine Zweifel bezüglich der „Repräsentation“ bezog Kafka im Fall seiner Werke auch auf deren eventuelle Bebilderung, vor allem wenn diese „tatsächlich illustrieren“ wollten.
Kafkas Bildhaftigkeit wurde durch die Vielzahl heterogener Bilder geformt, die ihm tagtäglich begegneten und deren Kategorisierung nach Qualität er ablehnte. Er misstraute der Bildrepräsentation als solcher, unabhängig davon, ob es sich um Kitsch oder ein Meisterwerk der europäischen Moderne handelte. Aus dieser offenen Alltagserfahrung Kafkas und paradoxerweise auch aus seinen Vorurteilen gegenüber der Visualität erwuchsen Texte, die auf geniale Weise zwischen Bild und Sprache balancieren.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Anna Ohlidal.
Der Text basiert auf einem Radio-Essay von Marie Rakušanová, der 2024 für den Tschechischen Rundfunk (Český rozhlas) eingesprochen wurde.
Marie Rakušanová ist Professorin für Kunstgeschichte und leitet das Institut für Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Sie beschäftigt sich mit tschechischer und internationaler Kunst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist an zahlreichen internationalen Projekten beteiligt. Von 2002 bis 2009 war sie Kuratorin in der Galerie der Hauptstadt Prag. Sie ist Autorin zahlreicher Ausstellungen, Monografien und wissenschaftlicher Artikel. Zu ihren bedeutendsten Werken gehören die Monografien Křičte ústa! Předpoklady expresionismu [Schreit, ihr Münder! Voraussetzungen (Vorschlag: Prämissen) des Expressionismus] (2007), Bytosti odnikud. Metamorfózy akademických principů v malbě první poloviny 20. století [Wesen von nirgendwo. Metamorphosen akademischer Prinzipien in der Malerei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts] (2008), Josef Váchal. Magie hledání [Josef Váchal. Magie des Suchens] (2014), Degrees of Separation. Bohumil Kubišta and the European Avant-Garde (2021, et al.) und Očima Franze Kafky: Mezi obrazem a jazykem [Mit Kafkas Augen: Zwischen Bild und Sprache] (2024, Herausgeberin und Mitautorin).