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11. 12. 2024

Mikuláš Zvánovec: Zentrum Dreiländereck – Projekt Kafkas Südböhmen

Foto Mikuláš Zvánovec

Am 5. Oktober 2024 wurde in der untergegangenen Ortschaft Glöckelberg (Zvonková) im Böhmerwald das internationale Literatursymposium Kafkas Südböhmen eröffnet. Es ist zugleich Pilotprojekt des Zentrums Dreiländereck, das im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Budweis (České Budějovice) tätig ist. Das Treffen war Teil der Veranstaltungsreihe Kafkas Südböhmen, die anlässlich des 100. Geburtstags von Franz Kafka stattfand und war insbesondere dem Gedenken des Schriftstellers und engen Freundes Kafkas Johannes Urzidil aus Prag gewidmet, der sich vor dem Zweiten Weltkrieg wiederholt in Josefsthal (Josefův důl) bei Glöckelberg aufhielt.

Glöckelberg – ein Ort der Versöhnung

 „Per omnes fines ad reconciliationem voco“ (Über alle Grenzen hinweg rufe ich zur Versöhnung) lautet die Inschrift auf einer der Glocken im Kirchturm von St. Johannes Nepomuk, den die tschechoslowakische Grenzwache vor 1989 als Wachturm nutzte. Die Kirchturmuhr steht auf „fünf vor zwölf“ und erinnert daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der idyllischen Böhmerwaldgemeinde die nahe österreichische Grenze zum Schicksal wurde. Im allerletzten Moment konnte sie gerade noch gerettet werden. Außer der Kirche und zwei Gebäuden blieb von dem einstigen Pfarrdorf mit 700 Einwohnern nichts erhalten.

Foto Libor Staněk

Dank des gemeinsamen Arbeitseinsatzes von Freiwilligen aus Österreich, Deutschland und der Tschechischen Republik unter der Leitung von Horst Wondraschek nach 1989 wurde jedoch aus dem verwunschenen Ort am Schwarzenbergischen Schwemmkanal ein Ort der Versöhnung, der uns immer noch vieles erzählen kann. Das nun zugewachsene Gebiet am Fuße des Hochficht war noch in der Zwischenkriegszeit eine begehrte Sommerfrische, das aber auch unter Wintersportlern gefragt war. Im benachbarten Josefsthal kamen die Literaten aus Kafkas Umkreis am Josefsthaler Stammtisch zusammen. Hier lebte und schrieb bis zum Jahr 1938 auch Josef Urzidil.

Glöckelberg und Johannes Urzdil

An der Veranstaltung „Urzidils Böhmerwald“ nahmen trotz der ungünstigen Wetteraussichten über 35 Personen aus Deutschland, Österreich und Tschechien teil. Sie besichtigten zunächst das Museum in Glöckelberg mit dem Gedenkraum für Johannes Urzidil und lauschten anschließend auf dem restaurierten Friedhof dem ganz persönlichen Bericht von Horst Wondraschek aus Linz über die behutsamen Instandsetzungsarbeiten in Glöckelberg nach 1989. Der Bericht wurde durch die Projektion historischer Fotos von Glöckelberg, Josefsthal und Hüttenhof ergänzt.

Zdena Mrázková, die Leiterin des Museums Fotoatelier Seidel in Krummau (Český Krumlov) und Lenka Hůlková, Leiterin der Gedenkstätte Adalbert-Stifter-Geburtshaus in Oberplan (Horní Planá) präsentierten ebenfalls viele interessante Ansichtskarten und Fotografien aus dem alten Böhmerwald und erzählten anschaulich von der Zeit, als Urzidil wegen des Aufkommens des Nationalsozialismus aus dem diplomatischen Dienst entlassen wurde und sich in den Böhmerwald zurückzog. Herrn Wondraschek wurde bei dieser Gelegenheit auch ein Geschenk überreicht als Dank für seine langjährige Tätigkeit. Eine Tonbandaufnahme mit Urzidils Erinnerungen an Franz Kafka rundete die bunt zusammengewürfelten Eindrücke vom einstigen Alltag in der Glöckelberger Gegend ab.

Foto Libor Staněk

Nach dieser Projektion begab sich die Gruppe auf einen Spaziergang zur einstigen Sommerwohnung Johannes Urzidils, geführt vom Vorsitzenden der Johannes-Urzidil-Gesellschaft Miloš Minařík. Er wies auf die vielen Spuren der Vergangenheit hin, die noch immer vorhanden sind, z. B. im Keller des ehemaligen Herrenhauses oder entlang des ehemaligen Gartenzauns des Prager deutschen Literaten. Einzelheiten und Kontexte der Böhmerwaldaufenthalte Urzidils wurden durch die persönlichen Erinnerungen der Zeitzeugin Emma Marx erhellt, die im nahegelegenen Hüttenhof (Huťský dvůr) zur Welt kam.

Das überaus informative und gleichzeitig symbolische Treffen fand in freundschaftlicher Atmosphäre statt, wozu auch eine Pause mit Kaffee und Kuchen beitrug. Beendet wurde die Veranstaltung durch ein internationales Picknick in Glöckelberg. Das Interesse an der Veranstaltung übertraf die Erwartungen auch im Hinblick auf die schlechte Wettervorhersage. Die Rückmeldungen waren sehr positiv und weckten auch das Interesse der Medien. Mit dieser Unternehmung gelang es auch, die grenzüberschreitenden Kulturinitiativen im Gebiet des tschechisch-österreichisch-deutschen Dreiländerecks zusammenzubringen und zu ermuntern.

Internationales Literatursymposium Kafkas Südböhmen

Höhepunkt des internationalen Projekts, an dem mehrere Einrichtungen aus dem In- und Ausland beteiligt waren, wie z. B. der Adalbert Stifter Verein aus München, das Deutsche Kulturforum östliches Europa, das Literaturfestival Šumava Litera oder das Museum Fotoatelier Seidel, war das internationale Literatursymposium Kafkas Südböhmen in der Villa Kende in Budweis (České Budějovice) am 12. Oktober. Die sechs Fachreferate des Programms befassten sich mit der Rolle Südböhmens im Leben und Werk von Autoren, die dem Kreis um Franz Kafka angehörten.

Villa Kende

Für Referenten und ausländische Gäste wurde außerdem ein Stadtrundgang durch Budweis angeboten, wobei der deutsch-tschechisch-jüdischen Geschichte der Stadt besondere Beachtung geschenkt wurde. Dabei kamen auch zukünftige Vorhaben und Projekte im Jahr 2028 zur Sprache, wenn Budweis Europäische Kulturhauptstadt sein wird. Bei der anschließeden Führung durch die Villa Kende in deutscher und tschechischer Sprache wurde nicht nur das sehenswerte Gebäude gezeigt, sondern auch auf die vergessenen Schicksale des gelähmten Komponisten Rudolf Kende und seiner Familie hingewiesen. Der Veranstaltungsort war auch wegen seiner symbolischen Bedeutung ausgewählt worden – als Ort, wo deutsche, tschechische und jüdische Geschichte der Region aufeinandertreffen. Moderiert wurde das Symposium von Franziska Mayer, einer Mitarbeiterin des Adalbert Stifter Vereins in München, und Mikuláš Zvánovec für das Zentrum Dreiländereck.Foto Pavel Balek

Südböhmen und die deutschprachige Literatur

Das Symposium wurde von Anna Hořejší, „creative director“ der Europäischen Kulturhauptstadt České Budejovice eröffnet, wonach František Talíř, Vertreter des Bezirkshauptmanns von Südböhmen, ein Grußwort sprach. Im ersten Vortrag machte der Direktor der Südböhmischen wissenschaftlichen Bibliothek Ivo Kareš die Zuhörer mit dem Phänomen der Prager deutschsprachigen Autoren im Böhmerwald und Südböhmen bekannt. Dabei stützte er sich auf Einträge der Datenbank „S´ Hohnakreiz (Kohoutí kříž)“, einer digitalen Enzyklopädie auch deutscher Böhmerwaldliteratur, die seit vielen Jahren im Aufbau ist und deren Existenz u. a.  seinem Engagement zu verdanken ist. Sie hält Informationen über und Werke von Autoren bereit, die im Laufe des 20. Jahrhunderts vergessen oder verdrängt wurden.

Foto Pavel Balek

Über die Familie und die südböhmischen Wurzeln des weltbekannten Schriftstellers Franz Kafka referierte Alena Wagnerová, die auch durch Biografien über Milena Jesenská und Sidonie Nadherny bekannt wurde. Wagnerová skizzierte vor allem auf bemerkenswerte Weise, welche Spuren soziale Fragen im Leben von Franz Kafka und seinem Vater Hermann Kafka hinterließen, welcher einer dörflichen jüdischen Familie aus armen Verhältnissen entstammte.

In einem weiteren Beitrag entführte der österreichische Historiker Thomas Samhaber, Organisator des grenzüberschreitenden Kulturfestivals Přechody/Übergänge, das Publikum in die Zeit, als sich Franz Kafka mit seiner Freundin, der tschechischen Journalistin Milena Jesenská, an der österreichisch-tschechischen Grenze, genauer gesagt auf dem Bahnhof in Gmünd bzw. České Velenice, traf. Aber auch andere Gründe führten Franz Kafka nach Südböhmen, z. B. ein Urlaub in Planá nad Lužnicí im Jahr 1922. Zwar fand er dort wegen des andauernden Lärms nicht unbedingt die gewünschte Ruhe, trotzdem vermochte ihn der Ort zur Arbeit an seinem Roman Das Schloss zu inspirieren, wie Daniel Musilek von der Südböhmischen Universität Budweis auf Grundlage von Kafkas Korrespondenz auf humorvolle Art vermittelte.

Foto Pavel Balek

Der zweite Teil des Programms war Johannes Urzidil gewidmet. Vera Schneider vom Deutschen Kulturforum östliches Europa in Potsdam zeichnete in ihrem Referat, unterstützt von Rundfunk-Aufnahmen, ein Porträt Urzidils als Schriftsteller und Kunsthistoriker, der zwar deutsch schrieb, sich aber in der Welt der Prager Kaffeehäuser bewegte, in deren intellektuell-künstlerischem Umfeld die Sprache kein Merkmal der Abschottung war. Passenderweise folgte darauf als letzter Referent Miloš Minařík von der Johannes-Urzidil-Gesellschaft, der über Urzidils Aufenthalte in Josefsthal sprach und dabei Informationen über dessen Kontakte zu tschechischen Malern beisteuerte.

Aufgrund der internationalen Ausrichtung wurden während der gesamten Dauer des Symposiums alle Referate simultan gedolmetscht (tschechisch-deutsch und deutsch-tschechisch). Gleichzeitig war das Symposium von überaus großem Nutzen für die Vernetzung der grenzüberschreitenden Akteure im Rahmen des Projekts Zentrum Dreiländereck und seiner weiteren Entwicklung bei. Die durchwegs positiven Rückmeldungen auf das Symposium hoben vor allem die Kombination von hochwertigen Beiträgen, einwandfreier Organisation und der außergewöhnlichen Atmosphäre des Veranstaltungsorts hervor.

Hermann Kafka aus Osek - eine Exkursion

Die zweite Veranstaltung des Begleitprogramms von Kafkas Südböhmen war eine Exkursion nach Osek bei Strakonitz mit simultan gedolmetschen Erläuterungen der Schriftstellerin Alena Wagnerová und der ehemaligen Ortschronistin von Osek Jana Vačkářová. Historisch gesehen war es die erste öffentliche Exkursion dieser Art.

Die Teilnehmer trafen sich am Bahnhof Radomyšl und begaben sich auf den Spuren der jüdischen Geschichte der Ortschaft auf einen etwa 6 km langen Rundweg. Von Jana Vačkářová erfuhren sie viele Details aus der jüngeren und älteren Geschichte von Osek, insbesondere über das jüdische Viertel, wo sich einst die Synagoge sowie das Geburtshaus von Hermann Kafka befanden. Dieser entstammte ärmlichen Verhältnissen, aber mit Fleiss und und Disziplin gelang es ihm, in der Prager Altstadt ein Galanteriewarengeschäft zu eröffnen. Diese Erfahrung mag ihn zur strengen Erziehung seines Sohnes bewogen haben, dem er genau die Eigenschaften antrainieren wollte, die ihm selbst den sozialen Aufstieg ermöglicht hatten.Foto Mikuláš Zvánovec

Danach machte sich die Gruppe an die Besichtigung des ansonsten nicht zugänglichen Oseker Schlosses, in dem momentan ein Heim für Personen mit Körperbehinderung untergebracht ist. Das Schloss, das nach Ansicht einiger Autoren, z.B. Ladislav Stehlík, die Vorlage für Kafkas berühmten gleichnamigen Roman gewesen ist, gehörte einst dem Rittergeschlecht der Daubeks. Der Herrensitz wurde 1911 im neubarocken Stil umgebaut, verfügt aber noch immer über einen ausgedehnten Schloßpark, in dem die Teilnehmer eine St. Nepomukkapelle oder auch die vergessene Gruft des Generals Peter Arnold entdecken konnten. Am Ende der Besichtigung bot sich den Teilnehmern der Exkursion zusätzlich ein musikalisches Erlebnis. Dafür sorgten in der Schlosskapelle zwei Bewohner des Heims, die dem internationalen Publikum etwas vorsangen und einige Orgelstücke spielten.Foto Mikuláš Zvánovec

Weiter führte die Exkursion, jetzt unter der Leitung von Alena Wagnerová, auf eine Anhöhe über Osek zum jüdischen Friedhof. Dieser entstand vor dem Jahr 1838, die letzte Bestattung fand im Jahr 1905 statt. Die ältesten Grabsteine stammen aus der Zeit, als der Friedhof angelegt wurde, insgesamt sind davon etwa fünfzig erhalten geblieben, auch die von Kafkas Großeltern Jakob Kafka und Františka Kafková, geborene Platowská, die hier bestattet sind. Alena Wagnerová fügte auch Erinnerungen an ihre Reisen nach Osek während ihrer Arbeit an dem Buch Im Hauptquartier des Lärms bei, das sich mit der Familie Kafka beschäftigt. So wurde es möglich, die positiven und negativen Veränderungen der letzten Jahre im Erscheinungsbild des Friedhofs zu erkennen. Auch Fragen des Sprachgebrauchs und soziale Fragen der Oseker Judenschaft im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts wurden angesprochen.Foto Mikuláš Zvánovec

Die Exkursion endete in der malerischen Ortschaft Radomyšl, die eng mit dem Wirken des Malteserritterordens verknüpft ist. Im Dorfgasthaus kam es dann noch zu abschließenden Diskussionen, freundschaftlichen Gesprächen und Planungen für weitere interessante Treffen in der künftigen Kulturhauptstadt, bzw. in Südböhmen.

Aus dem Tschechischen übersetzt von Anna Knechtel.

Mikuláš Zvánovec ist Historiker, seine Arbeitsschwerpunkte sind Nationalismusgeschichte, Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Schulwesen, deutsch-tschechische und österreichisch-tschechische Beziehungen, Eiserner Vorhang und Regionalgeschichte des Böhmerwaldes. Nach dem Studium an der Karls-Universität in Prag, promovierte er dort zum Thema „Der nationale Schulkampf in Böhmen. Schulvereine als Akteure der nationalen Differenzierung 1880-1914“. Er ist Mitarbeiter am Comenius-Institut in Prag, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hradec Králové und Geschäftsführer der Bernard-Bolzano-Gesellschaft in Prag.

Das Projekt Kafkas Südböhmen wurde durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds gefördert.