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24. 09. 2024

Miroslav Kunštát: Wer hätte Kafka eigentlich (im Jahr 1983) fürchten sollen?

Foto Benoît Prieur, Creative Commons CC0

Das Prager „Ancien Régime“ der 1970er und der 1980er Jahre tat sich schwer mit Franz Kafka. Im Laufe der 1960-er Jahre hatten die Reformkommunisten zwar begonnen, die Aktualität der Werke Kafkas auch für die sozialistische Gesellschaft anzuerkennen, etwa im Hinblick auf die Auswüchse des eigenenbürokratischen Apparats. Nach 1968, als die Truppen des Warschauer Pakts das Land besetzten und die so genannte Normalisierung Einzug hielt, wurde diese spezifische tschechoslowakische Rezeption Franz Kafkas jedoch als eine der giftigen Früchte des Prager Frühlings (und seines kulturellen Vorfrühlings bereits zu Beginn der sechziger Jahre), als Ausdruck des Revisionismus und der Herabwürdigung (vermeintlicher) Errungenschaften des im Aufbau befindlichen Sozialismus verurteilt.

Franz Kafka und der Sozialismus

Die tschechoslowakischen Protagonisten der berühmten Kafka-Konferenz 1963 in Liblice wurden in den siebziger Jahren geächtet, der bekannteste, Eduard Goldstücker, ging ins britische Exil. Die Diskussionen um Franz Kafka waren insbesondere den Genossen der ehemaligen DDR ein Dorn im Auge, Walter Ulbricht bezeichnete die Konferenz in Liblice als fatalen Moment der Abkehr vom Weg zum Sozialismus. Übrigens waren nicht alle damaligen Konferenzteilnehmer vom sozialistischen Wert, geschweige denn Aktualität, des Kafkaʹschen Werks überzeugt. Im Vortrag des ostdeutschen Germanisten Klaus Hermsdorf hieß es etwa: „Die Berechtigung und produktive Funktion Kafkas in Literatur und Gesellschaft bestehen meinem Erachten nach in seiner Wirkung als Ferment, als Stachel, das in Wirklichkeit zu bewältigen, was er als Unbewältigtes gestaltete. Das schließt die Aufgabe ein: ihn historisch zu machen.“Umschlag des Sammelbandes der Tagung Franz Kafka in Liblice 1963, herausgegeben 1963 in dem Verlag Nakladatelství Československé akademie věd in Prag. Die Editoren waren Eduard Goldstücker und Pavel Reiman.

Kafka – die verbotene Frucht

Zur Zeit der Normalisierung hatte allein die Lektüre von Kafkas Werk den Beigeschmack einer verbotenen Frucht. Offiziell war es zwar nicht verboten, durfte aber bis auf Ausnahmen nicht neu herausgegeben werden. Die wenigen Ausnahmen standen alle mit dem 100. Geburtstag Kafkas im Jahr 1983 in Verbindung: Während in der DDR eine Auswahl von Texten (mit einem Nachwort des bereits erwähnten Klaus Hermsdorf) aufgelegt wurde, erschien in der Tschechoslowakei in geringer Stückzahl nur eine bescheidene Wiederauflage der von Vladimír Kafka übersetzten Erzählungen sowie – als kaum zugängliche Rarität – eine Zusammenstellung von Kafkas Handschriften aus den Beständen des Literaturarchivs (Památník národního písemnictví) und anderer Prager Archive.

Auf den Spuren Franz Kafkas 1983: Reiseveranstalter Sportturist und die West-Schüler

Unerwartete „Komplikationen mit Kafka“ zeigten sich auch anderswo. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an eine unerwartete Einladung des stellvertretenden Leiters des Reiseveranstalters „Sportturist“ Šimon Steffal in dessen Büro in der Nationalstraße. Mit Barbara Köpplová und Nora Dolanská waren auch zwei bekannte Historikerinnen eingeladen, die sich mit tschechischer und deutsch-tschechischer Journalistik befassten. Etwas ratlos zeigte uns Steffal stapelweise Anfragen von Schulen (selbstredend aus der BRD): Sie wünschten sich im Rahmen ihrer Studien- oder Abschlussfahrten eine spezielle Führung zum Thema „Franz Kafka und Prag“. Ich hatte seit 1976, noch als Student, deutschsprachige Touristen durch Prag geführt, Barbara Köpplová und Nora Dolanská schon etwas früher. Die Reiseveranstalter Sportturist und CKM (Cestovní kancelář mládeže / Reisebüro der Jugend) waren im Bereich des Incoming-Tourismus schon seit längerem auf Schulfahrten aus dem kapitalistischen Westen spezialisiert (insbesondere in Zusammenarbeit mit den Instituten für Bildungsreisen in Konstanz und in Mainz), doch diese Art von Anfragen – „maßgeschneidert“ zu Kafkas 100. Geburtstag – hatte sie regelrecht überrumpelt.

Wie andere Reisebüros auf ähnliche Anfragen reagierten, weiß ich nicht, Sportturist jedenfalls wählte eine pragmatische Lösung. Das Trio Barbara Köpplová, Nora Dolanská, Miroslav Kunštát erarbeitete rasch auf Grundlage der (übrigens damals schwer erhältlichen) Bücher von Klaus Wagenbach, Max Brod und anderen „Kafkologen“ einen Führungsleitfaden, der die wichtigsten noch erhaltenen Franz-Kafka-Erinnerungsorte enthielt. Von seinem Geburtshaus in der Straße U radnice / Am Rathaus in der Altstadt – an dem bereits in den sechziger Jahren eine würdige Gedenktafel angebracht worden war – über verschiedene noch  erhaltenen Wohn- und andere Erinnerungsorte bis hin zu seinem Grab auf dem neuen jüdischen Friedhof in Olšany / Olschan. 

In den folgenden Monaten boten wir für deutsche Schüler anhand dieses sehr flexibel zusammengestellten Leitfadens halb- oder auch ganztägige Führungen durch das alte Prag an, in die wir vor allem in der Altstadt Orte einbauten, die hier mit dem Leben Franz Kafkas verbunden waren. Eigentlich mit seinem GESAMTEN Leben, hatte er doch Prag, jenes „Mütterchen mit Krallen“, praktisch nie verlassen. Ich selbst leitete allein 1983 wohl an die 20 Kafka-Führungen, und auch im folgenden Jahr ließ das Interesse nicht nach. Nach und nach kamen auch andere erfahrene Prager Stadtführer, die sich für die Prager deutsche Literatur interessierten, dazu. Ich erinnere mich da etwa an Dagmar Roth-Caklová oder Neklan Jun.

Prager deutsche Literatur für West-Touristen

Kafka-Führungen vermittelte später informell auch der damalige Prager Informationsdienst, die Landeskunde-Abteilung des Prager Magistrats. Es ist allerdings bezeichnend, dass diese thematische Führung nicht für Touristen aus dem sozialistischen Ausland angeboten wurde, von Besuchern aus der Tschechoslowakei ganz zu schweigen. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde das Angebot für Schulgruppen aus der BRD, Österreich und der Schweiz um Führungen mit dem Titel Auf den Spuren der großen Prager deutschen Schriftsteller und Dichter erweitert (auch hier entstand ein entsprechender Leitfaden für Stadtführer). Es war allerdings schon die Zeit des beginnenden politischen und kulturellen Tauwetters, und die „verbotene Frucht“ wurde zur alltäglichen Stadtführer-Routine für eine anspruchsvollere touristische Klientel.

Kafka und die amerikanische Botschaft in Prag

Zum Schluss vielleicht noch eine kleine Kuriosität, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Die Botschaft der USA, angesiedelt bis heute im Schönborn-Palais auf der Kleinseite (Tržiště Nr. 15), gestattete uns freizügig und ohne größere Formalitäten, im Rahmen der Kafka-Führungen die Orte zu besuchen, wo Franz Kafka 1917 gewohnt hatte, und wo zum ersten Mal seine tödliche Krankheit, die Lungentuberkolose, aufgetreten war. Wir durften den Garten besuchen, und wenn wir mehr Zeit hatten sogar die berühmte Gloriette, auf der selbst zu kommunistischen Zeiten weithin sichtbar die amerikanische Flagge über Prag wehte. Einzige  Bedingung: Eine Begleitperson musste für die Zeit des Besuchs, der auch die Lesung von Kafkas Beschreibung des Schönborn-Palais und seines Gartens umfasste, an der Botschaftspforte seinen Reisepass hinterlegen! Heute, wo sich die US-Botschaften meist in uneinnehmbare Festungen verwandelt haben, scheint dies kaum vorstellbat. Ja, in der Tschechoslowakei des späten Kommunismus war manches möglich – ein terroristischer Anschlag auf die amerikanische Botschaft hingegen komplett unwahrscheinlich...

Aus dem Tschechischen übersetzt von Daniela Pusch.

Miroslav Kunštát ist Historiker und arbeitet am Lehrstuhl für deutsche und österreichische Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind die tschechisch-deutschen und tschechisch-österreichischen Beziehungen nach 1945, die Kirchen- und Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts sowie aktuelle politische und soziale Probleme der deutschsprachigen Länder. Er ist Autor und Mitautor einer Reihe von Publikationen zu diesen Themen.