Blog

12. 12. 2024

Reiner Stach:  Kafka 2024

Eine Veranstaltung im Goethe-Institut in Rom - Archiv von Reiner Stach

Das Kafka-Gedenkjahr ist beinahe schon zu Ende, die literarisch Interessierten sind in Gedanken vielleicht bereits bei den nächsten großen Jubiläen ­­­– »Thomas Mann 2025« und »Rilke 2026« –, mir wird es aber nach der unfassbar intensiven Welle, die soeben über uns hinwegging, nicht leichtfallen, zur Tagesordnung überzugehen.

Kein Kafka-Festival in Berlin, dafür Kafka-Serie in der ARD

Haben wir es kommen sehen? In diesem Ausmaß gewiss nicht. Noch vor zwei Jahren glaubte ich, in Berlin, meinem Lebensort, Veranstaltungen anstoßen zu müssen, damit wir nicht ausgerechnet in der Hauptstadt etwas verpassen. Die Idee war, im Rahmen eines »Kafka-Festivals« den multimedialen Einfluss Kafkas sichtbar zu machen und damit auch jüngere Leserinnen und Leser und vor allem Noch-nicht-Leser anzulocken. Ein freundlicher Sponsor war bald gefunden, prominente Unterstützer waren hilfreich, doch die Kulturpolitik zeigte sich völlig desinteressiert, sowohl in der Stadt als auch auf Bundesebene.

Dass ich mich über diese Enttäuschung nicht allzu lange grämen musste, war vor allem der Filmarbeit zu verdanken. Hat man sich sehr lange mit einem Gegenstand beschäftigt, dann ist es intellektuell herausfordernd, aber auch äußerst belebend, das eigene Forschungsfeld in einem neuen, fremden Medium zu vermitteln. Nie zuvor hatte ich mit Leuten vom Film gearbeitet.

Die sind schwierig, hatte man mich gewarnt, und die stehen unter ganz anderem Druck als Du. Daran ist viel Wahres, doch wirklichen Druck spürte ich nur am Set, sowohl bei der Kafka-Serie für die ARD als auch bei der Kafka-Doku für Arte, die ein tschechisches Team drehte. In beiden Fällen ging es bis an den Rand der Erschöpfung, da die Drehpläne kaum Spielraum ließen.Potsdam, Verleihung des CLIO an David Schalko für die Serie "Kafka" als besten historischen Film - Archiv von Reiner Stach

Die Arbeitsgespräche mit Daniel Kehlmann und David Schalko hingegen waren völlig entspannt, kollegial und freundschaftlich, und auch das erfahrene tschechische Team nahm sich stets die Zeit, alle Vorschläge in Ruhe zu besprechen, in langen Video-Konferenzen. Wieder einmal bewahrheitete sich die alte Erfahrung, dass die Zusammenarbeit mit den Besten ihres Fachs auch die angenehmste ist – weil sie niemandem mehr etwas beweisen müssen.

Und dann kam die Kafka-Welle

Ich hatte mir einen »Google Alert« eingerichtet, um für die Website franzkafka.de, die ich für den S.Fischer Verlag betreue, nichts Wichtiges zu versäumen, außerdem konsultierte ich regelmäßig die vom Team des Adalbert Stifter Vereins um Zuzana Jürgens aufgebaute Plattform kafka2024.de. Doch es war unmöglich, mit der dichten Folge von Events noch Schritt zu halten: Ausstellungen, Vorträge, Theaterinszenierungen ohne Zahl, szenische Lesungen, Podiumsgespräche, Konzerte, Filme, Podcasts, Performances… Selbst wenn ich mich weitgehend auf den deutschsprachigen Raum beschränkte, was nicht immer sinnvoll war, musste ich eine rigide Auswahl treffen, ansonsten hätte ich wohl einen Live-Ticker einrichten müssen.Mit Kathrin Verzino, Initiatorin des Cottbuser Kafka-Festivals - Archiv von Reiner Stach

Das kann unmöglich lange so weitergehen, bekam ich von vielen Seiten zu hören, und manche sagten sogar voraus, dass spätestens nach dem Todestag, dem 3. Juni, eine allgemeine Ermüdung einsetzen würde. Es kam ganz anders, auch für mich. Denn die überwältigende kulturelle Präsenz dieses Autors bemisst sich ja keineswegs nur an der Menge von Events, neuen Büchern und TikTok-Videos.

Was der Begriff »Weltautor« wirklich bedeutet, erfuhr ich erst auf Reisen, und vielleicht ist diese sinnliche Erfahrung der größte Gewinn, den ich mitnehmen und bewahren werde. Es ist zutiefst berührend, in einem kulturell fremden Land anzukommen und dort über Kafka sprechen zu hören, als sei das ein gemeinsamer Nachbar. In Tschechien bin ich das seit langem gewohnt, was niemanden verwundern wird, aber dasselbe passierte in Polen, Frankreich, Spanien, Italien, Marokko und Brasilien.Einweihung des Milena-Jesenská-und-Franz-Kafka-Platzes in Meran, unmittelbar vor der ehemaligen Pension Ottoburg, in der Kafka 1920 wohnte - Foto: Markus Perwanger

Nach 36-stündiger Reise in einer Kleinstadt in Süd-Brasilien anzukommen und dort schon beim ersten Rundgang auf die Kafka-Karikaturen von Nicolas Mahler zu treffen und in das für Kafka-Vorträge und -Lesungen reservierte Stadttheater geführt zu werden – es hatte etwas Traumartiges im ersten Augenblick, und ich musste mir förmlich einen inneren Ruck geben, um es als real zu akzeptieren. Es gibt offenbar Dinge, die man erst dann glaubt, wenn man sie sieht, im Bösen wie im Guten.Mit Lektoren des brasilianischen Verlags Todavia in São Paulo, in dem Bücher von Reiner Stach erscheinen - Archiv von Reiner Stach.

Nach Kafka ist vor Kafka

Meine Tour ist vorläufig abgeschlossen, mehr als 60 Veranstaltungen liegen hinter mir, Hunderte von Gesprächen, zahllose Stunden in Zügen und auf Flughäfen. Eine längere Pause wäre jetzt gut, nicht nur, um neue Kraft zu schöpfen, sondern vor allem auch, um das Erlebte zu verarbeiten und das Gelernte wirklich aufzunehmen. Von einer bevorstehenden Ebbe allerdings ist keine Rede mehr. Neue Übersetzungen von Kafkas Werken wurden angestoßen, neue Inszenierungen, weitere Filmprojekte. Wir warten auf Agnieszka Hollands Kinofilm über Kafka, auch er wird dafür sorgen, dass unsere Auseinandersetzung mit dieser singulären Erscheinung weitergeht. „Du bist die Aufgabe“, schrieb er. Mir scheint, ich verstehe diesen Satz jetzt besser.

Reiner Stach ist Literaturwissenschaftler, Publizist und führender Kenner des Werks und Lebens von Franz Kafka. Er ist Autor seiner dreiteiligen Biografie, zuletzt gab er eine kommentierte Ausgabe von Franz Kafkas Der Process heraus (Wallstein, 2024).