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15. 08. 2024

Vera Schneider: Mit Franz am Strand

Den heutigen „F.-Kafka-Weg“ nahm Kafka, wenn er sich aus dem „Haus Glückauf“ an den Strand begab. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Im Ostseebad Müritz begegnete Franz Kafka seiner letzten großen Liebe. Das heutige Graal-Müritz pflegt die Erinnerung an den berühmten Kurgast.

„So zarte Hände, und sie müssen so blutige Arbeit verrichten!“ Das waren die ersten Worte Franz Kafkas an Dora Diamant, erinnerte sie sich später. Sie stand in der Küche einer Ferienkolonie im Ostseebad Müritz und schuppte Fische ab, er verstand sich offensichtlich nicht nur als Autor auf einen prägnanten Auftakt. Ihr Interesse hatte er jedenfalls geweckt.

Hier ging Kafka

„F.-Kafka-Weg“ – auf diesen Wegweiser stieß ich 2021 während eines Urlaubs in Graal-Müritz. Einige hundert Meter weiter, in der Strandstraße 12, entdeckte ich eine Gedenktafel, die an Kafkas Aufenthalt an diesem Ort erinnerte. Ich stand auf literaturhistorisch bedeutsamem Boden: An diesem Ort nahm das Leben des bedeutendsten Prager deutschen Autors eine entscheidende Wendung.

Franz Kafka war im Juli 1923 nach Müritz gekommen, um sich an der guten Luft zu erholen. Er litt an Tuberkulose, hatte seit Monaten fortwährend Fieber. In unmittelbarer Nachbarschaft der Pension „Haus Glückauf“, in der er Quartier nahm, lag die Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheims. Er hatte Freude am Kontakt mit den ostjüdischen Kindern, die dort betreut wurden: „Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks“, schrieb er an seinen Freund Hugo Bergmann. Kurz darauf traf er Dora Diamant, die aus einer chassidischen Familie stammte und vom Volksheim als Wirtschafterin und Köchin angestellt worden war. Eine Begegnung, die sein Leben verändern sollte: Er folgte ihr nach Berlin und lebte dort mit ihr zusammen, bis seine Krankheit das Paar zwang, die Stadt zu verlassen. Bis zu seinem Tod blieb Dora an seiner Seite.In der Strandstraße 12 stand die Pension „Haus Glückauf“, in der Franz Kafka im Sommer des Jahres 1923 ein Balkonzimmer zur Waldseite bewohnte. Die heutige Bebauung ist neueren Datums. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Noch an Ort und Stelle fasste ich den Plan, im heutigen Ostseeheilbad eine Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa auf die Beine zu stellen. Denn in dieser Geschichte schwang so viel Spannendes und Berührendes mit: Kafkas Ringen um die eigene jüdische Identität, Dora Diamants Flucht vor den Einschränkungen, die ihre orthodoxe Herkunft ihr auferlegte, und nicht zuletzt die Erfüllung von Kafkas dringlichem Wunsch, sich endlich von Prag zu lösen und mit einer Frau zusammenzuleben, ohne auf das Schreiben verzichten zu müssen.Der Strandzugang, auf den der „F.-Kafka-Weg“ mündet: Hier hat der Gast aus Prag mit den Kindern seiner Schwester Elli Sandburgen gebaut. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Ich musste nicht lange nach Verbündeten vor Ort suchen. Susanne Graf, die Leiterin der Graal-Müritzer Bäderbibliothek, erzählte mir von der Literaturwoche, die sie in Zusammenarbeit mit André Pristaff, dem Marketingleiter der Tourismus- und Kur-GmbH, schon seit einigen Jahren organisiert. Auch der bekannte Kafka-Biograf Reiner Stach war schnell für ein Gastspiel in Graal-Müritz zu begeistern. Und so kam es, dass wir uns im Juni 2023 gemeinsam mit dem Publikum im vollbesetzten „Haus des Gastes" an die Ereignisse vor hundert Jahren erinnerten.

Der Kafka-Triathlon

Was lag da näher, als im Kafka-Gedenkjahr 2024 die gemeinsamen Bemühungen fortzusetzen? Diesmal war auch Dörthe Hausmann mit im Boot, die neue Geschäftsführerin der Tourismus- und Kur-GmbH. „Was Ahrenshoop für die Kunstszene ist, das könnte Graal-Müritz für die Literaturszene werden“, umriss sie ihre Zukunftsvision. Unrealistisch ist das nicht, denn an kaum einem anderen Ort der deutschen Ostseeküste haben so viele namhafte Schriftsteller Erholung und kreative Inspiration gefunden.

Da kam das Kafka-Gedenkjahr gerade recht. Am zweiten Tag der Literaturwoche waren dem Prager deutschen Autor gleich drei Programmpunkte gewidmet. Zu Beginn des „Kafka-Triathlons“ las Günter Karl Bose im Konzertpavillon aus seinem gerade erschienenen Buch Franz Kafka im Ostseebad Müritz [1923]. Es zeichnet ein detailliertes Bild der Ereignisse und würdigt auch die oft unterschätzte Rolle von Tile Rößler: Die Sechzehnjährige, eines der Mädchen aus dem Jüdischen Volksheim, machte gerade eine Lehre zur Buchhändlerin und hatte bereits eine Ahnung vom kommenden Weltruhm des geheimnisvollen Kurgastes. Nebenbei ist Boses schön ausgestattetes Buch auch eine Hommage an Graal-Müritz, die das Publikum zu schätzen wusste.Günter Karl Bose während der Lesung aus seinem Buch „Franz Kafka im Ostseebad Müritz [1923]“. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

„Es brodelt und kafkat, es werfelt und kischt“ – unter diesem vermutlich auf Karl Kraus zurückzuführenden Titel durfte ich den Mittelteil des Kafka-Triathlons bestreiten. Damit wollte ich Kafka aus dem luftleeren Raum, in dem er als „genialer Einzelgänger“ mitunter zu schweben scheint, auf den Prager Boden zurückholen. Denn dort gedieh im Spannungsfeld zwischen deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur zwischen 1890 und 1939 eine blühende Literaturlandschaft. Dafür hatte ich Verstärkung mitgebracht: Es erklangen die in historischen Tondokumenten festgehaltenen Stimmen von Johannes Urzidil, Max Brod, Franz Werfel, Clara Westhoff und Lenka Reinerová.Eingebunden in Vera Schneiders multimedialen Streifzug durch die Prager deutsche Literatur waren zahlreiche O-Töne. Hier moderiert sie Franz Werfel an. Foto: Kathrin Marczak, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Krönender Abschluss des Tages war das Ein-Mann-Stück Amerika, eine Inszenierung des Volkstheaters Rostock. Die Adaption des Romanfragments von Kafka erzählt von der Suche nach Selbstbestimmung. Der junge Karl Roßmann wird von seinen Eltern verstoßen und nach Amerika geschickt. Dort gerät er in immer absurdere Situationen. Rettung verspricht das Naturtheater von Oklahoma, bei dem er schließlich anheuert. Am Ende steht die Frage: Welche Rolle spielt er in der Welt? Als Protagonist brillierte Bastian Inglin und beantwortete im Anschluss – gemeinsam mit dem Dramaturgen Arne Bloch – Fragen zur Inszenierung. Im Publikum waren zahlreiche bekannte Gesichter: Unentwegte, die den gesamten Kafka-Triathlon mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit verfolgt hatten.Hotelklingel und Metronom waren zwei der Requisiten, mit denen Bastian Inglin alias Karl Roßmann in der „Amerika“-Inszenierung des Volkstheaters Rostock die Leiden eines Liftboys demonstrierte. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Ein Brief von Franz, ein Gedicht von Rainer Maria

Auch an den folgenden Tagen blieb der Prager in Graal-Müritz präsent. Susanne Graf lud zu einem literarischen Rundgang durch den Ort ein und wandelte trotz des unwirtlichen Wetters mit zahlreichen Wissbegierigen auf den Spuren Kafkas, aber auch anderer schreibender Gäste wie Hans Fallada und Erich Kästner. Einen spektakulären Fund machten wir am Tag darauf während der Themenwanderung Ein Rucksack voller Literatur: Mit unserem Wanderführer Torsten Maaß entdeckte wir nicht nur Baumkuchen und (Gold-)Bären im Graal-Müritzer Kurwald, der Experte für Waldprävention zauberte aus dem Astloch einer alten Eiche auch einen Brief zutage. „An die Freunde der Literatur, der See und des Waldes. Gruß Franz“, stand auf dem Umschlag, darin ein Zettel mit Kafka-Zitaten, allen voran die Maxime: „Ich glaube an die Macht der Orte.“Kafkas Handschrift mag ein wenig anders aussehen, dieser Fund im Graal-Müritzer Küstenwald sorgte dennoch für Verblüffung. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Vielleicht war es diese Macht, die mir beim anschließenden literarischen Picknick das Gedicht eines anderen Pragers zuspielte. Wir waren zu Beginn der Wanderung mit Rucksäcken ausgestattet worden, in denen sich neben Lunchpaketen auch versiegelte Umschläge mit literarischen Texten befanden. Zu meiner großen Freude war es Rainer Maria Rilkes Die Stille, das ich den anderen Wandersleuten vorlesen durfte.Bibliothekarin Susanne Graf (mit Mappe) führte an ehemalige Wohnorte von Literaten, die in Graal-Müritz zu Gast waren, und zeigte die Plätze, an denen diese gern ihre Zeit verbrachten. Foto: Vera Schneider, © Deutsches Kulturforum östliches Europa

Mit dem Kinofilm Die Herrlichkeit des Lebens klang der Tag aus. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Michael Kumpfmüller erzählt in starken, emotionalen Bildern von der Liebe zwischen Dora und Franz.  Die Vorführung war so gut besucht, dass zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden mussten. Mit Henriette Confurius und Sabin Tambrea in den Hauptrollen überzeugte diese Version der Geschichte das Graal-Müritzer Publikum, wenngleich es „seinen“ Strand nicht recht wiedererkannte: Dass die Regie ein Ufer mit Steilküste als Schauplatz ausgewählt hatte, war nicht die einzige Freiheit, die sie sich nahm, aber sie fiel den Ortskundigen am schnellsten ins Auge.  Der Film „Die Herrlichkeit des Lebens“ fuhr den Besucherrekord der Graal-Müritzer Literaturwoche ein. Foto: © Tourismus- und Kur GmbH Graal-Müritz/André Pristaff (Marketing & Event)

Epilog an der Seebrücke

In den Abendstunden warten hier Angler geduldig auf den großen Fang, tagsüber herrscht reges touristisches Treiben. Franz Kafka hat die 350 Meter lange Graal-Müritzer Seebrücke allerdings nicht betreten können: Zu seiner Zeit besaßen die Orte Graal und Müritz, die offiziell erst 1938 zusammengefasst wurden, jeweils eine eigene. Beide Bauwerke wurden durch schweren Seegang und Eisbildung im Jahre 1941 zerstört.Dieses Banner mit dem bekanntesten Zitat Kafkas über seine Zeit in Müritz wurde während der Graal-Müritzer Literaturwoche 2024 eingeweiht. Foto: © Tourismus- und Kur GmbH Graal-Müritz/André Pristaff (Marketing & Event)

Die neue Seebrücke schafft erst seit 1993 eine sichtbare Verbindung zwischen beiden Ortsteilen. Sie trotzdem in die literarische Tradition des Ortes einzubinden, war das Ziel einer Aktion am letzten Tag der Graal-Müritzer Literaturwoche 2024. Am Ende der Brücke, direkt unter der Horizontlinie, die Meer und Himmel trennt, prangt nun ein Banner mit Kafkas Konterfei, seiner Signatur und dem prophetischen Briefzitat: „Franz Kafka … vor der Schwelle des Glücks‘“. Es wird in diesem Sommer sicher noch vielen Gästen ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

 

Vera Schneider studierte Germanistik und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, wo sie mit einer Dissertation zur Prager deutschen Literatur promoviert wurde. Als freie Journalistin arbeitete sie unter anderem für den Deutschlandfunk und publizierte zur deutschböhmischen Literatur- und Kulturgeschichte. Seit 2013 ist sie beim Deutschen Kulturforum östliches Europa als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig.